Gesundheit: Nur die Kranken überleben
Unser Körper ist nicht perfekt. Aber Fehler und Schwächen können auch eine Stärke sein, lehrt die Evolutionsmedizin
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Wer Blut spendet, rettet Leben. Wenn Sharon Moalem zur Ader gelassen wird, gilt das gleich doppelt. Denn sein Blut ist ein ganz besonderer Saft: er läuft von Eisen regelrecht über. „Ich würde von innen zu Tode rosten, wenn mein Blut nicht regelmäßig von seinem Eisen befreit würde“, sagt Moalem.
Aber der Amerikaner hat nicht nur eine angeborene Eisenspeicherkrankheit mit Namen Hämochromatose. Er ist auch Evolutionsbiologe. Als solcher stellte er sich die Frage, ob seine krankhafte genetische Veranlagung nicht auch einen versteckten Nutzen haben könnte. Denn nur um Schaden anzurichten, dafür ist das defekte Eisenspeichergen einfach zu häufig. Die Evolution hätte es längst aussortiert. In einigen Teilen Europas aber trägt jeder Dritte eine Kopie der krankmachenden Erbanlage in sich. Bei diesen Menschen prägt sich das Leiden nur geringfügig aus – anders als bei Moalem, bei dem beide Kopien des Gens betroffen sind.
Für Moalem begann eine detektivische Suche nach dem verborgenen Nutzen seines Leidens. Schließlich wurde der Wissenschaftler von der New Yorker Mount Sinai School of Medicine fündig. Der schwerste Webfehler in der Erbanlage für Eisenspeicherung breitete sich um das Jahr 800 in Europa aus. Fünf Jahrhunderte später begann die Pest auf dem Kontinent ihren tödlichen Siegeszug.
Moalem kam ein Verdacht. Der Erreger der Pest, ein Bakterium mit Namen Yersinia pestis, vermehrt sich mit Vorliebe in Makrophagen, Zellen der Blutabwehr. Allerdings lieben es Pestbakterien eisenreich. Paradoxerweise sind die Makrophagen bei Menschen mit einer Eisenspeicherstörung eisenarm. Es könnte also sein, dass gerade die vermeintlich Kranken vor der Pest gefeit waren, weil die Pesterreger in ihren Makrophagen nicht überleben konnten, meint Moalem.
Die Eisenspeicherkrankheit ist längst nicht die einzige Störung, bei der Gene ein doppeltes Spiel spielen. Ein anderes Beispiel ist die Sichelzellenanämie. Menschen mit dieser Störung haben sichelförmig verformte rote Blutkörperchen und jede Menge Gesundheitsprobleme. Wer aber nur eine Kopie des defekten Gens und daneben eine intakte Erbanlage für das gleiche Eiweiß besitzt, der hat sogar einen Überlebensvorteil, denn er ist besser gegen Malaria geschützt.
Ein ähnlicher Fall ist die Mukoviszidose. Das schwere Lungenleiden bricht aus, wenn sowohl die mütterliche als auch die väterliche Kopie einer bestimmten Erbanlage defekt sind. Besitzt der Träger aber nur eine defekte Kopie – in Deutschland ist das bei jedem 30. der Fall –, dann schützt diese genetische Veränderung vermutlich vor Typhus. Das könnte dazu geführt haben, dass das Mukoviszidose-Gen überdauern hat.
Moalem gehört zu jenen Forschern, die versuchen, eine Brücke zwischen Evolution und Medizin zu schlagen. Es ist mehr als Ironie, wenn sein Buch „Überleben der Kränksten“ heißt. Denn im Licht der Evolution erscheint der Mensch anders, als er sich selber sieht. Nicht als jemand, der geradezu einen Anspruch darauf hat, gesund und glücklich zu sein und mindestens 80 Jahre alt zu werden. Sondern als das Produkt einer vier Milliarden Jahre währenden Entwicklung, in der es vor allem um zwei Dinge ging: Überleben und Vermehren.
Der Natur sind unsere körperlichen und seelischen Bedürfnisse herzlich egal. Glück? Ja, aber nur, wenn dieses Gefühl dem Überleben und der Vermehrung dient. Kein Wunder, dass Essen und Sex uns euphorisch stimmen können. Aber Glück bedeutet auch Stillstand. Und so ist die Palette der negativen Gefühle bei weitem reichhaltiger. Empfindungen wie Unzufriedenheit, Unruhe, Neid, Aggression, Hass und Eifersucht sind nicht ohne Grund in uns so sehr präsent. Sie ließen uns überleben, ob uns das gefällt oder nicht. Sie sind ein Produkt der Evolution. Auch wenn wir dafür leiden mussten: Der Triumph des Menschen beruht auf einer Unglücksformel.
Was für unsere Seele gilt, trifft auch für unseren Körper zu. „Die Gefährdung des Idealzustands gesundheitlichen Wohlbefindens“ sei „eher die Regel als die Ausnahme“, meint Hubert Markl, Evolutionsbiologe an der Uni Konstanz. Selbst gewöhnliche Gesundheit sei ein „vorübergehender Glücksfall“, ein meist unerreichbares Ideal. Unser Körper ist ein Kompromiss. Er hat Fehler und Schwächen, die ihre Wurzeln häufig in der Entwicklung unserer Art haben und die uns an anderer Stelle stark machen können.
Bekanntestes Beispiel für einen „Designfehler“ ist der aufrechte Gang. Er hat seine Vorteile, aber er überfordert Wirbelsäule und Becken und ist die Quelle von Rückenschmerzen und anderen Problemen.
Weniger bekannt ist ein anderer Schnitzer in unserer Anatomie, der jedes Jahr zu etlichen Todesfällen durch Verschlucken führt: die Kreuzung von Atemwegen und Verdauungstrakt in unserem Rachen. Ein komplizierter Mechanismus schließt den Kehldeckel über der Luftröhre, während wir Essen hinunterschlucken. Alles andere wäre lebensbedrohlich, denn Nahrung, die in die Luftröhre gelangt, bedeutet akute Erstickungsgefahr. Es ist nur ein schwacher Trost, dass diese ungünstige Verkehrskreuzung ein uralter Teil unserer Entwicklung ist und sich bei allen Wirbeltieren findet. Es gibt auch schlechte Kompromisse.
Fett, süß, salzig – alles, was schmeckt, ist anscheinend ungesund. Diese Gleichung gilt erst, seit Nahrungsmittel im Übermaß vorhanden sind. Als kalorienreiche Ernährung noch Mangelware war – also während der allermeisten Zeit unserer Entwicklung – und Hungern an der Tagesordnung, konnte es durchaus sinnvoll sein, dass unser Körper auf diese Nahrungsreize ansprang. Und perfekt darauf getrimmt, Fettreserven für schlechte Zeiten anzulegen.
Unser Gaumen führte uns auf die Spur energiereicher Nahrungsmittel und verbesserte damit unsere Überlebenschancen. Der angeborene Kuchenzahn macht es dafür heute umso schwerer, der ernährungsmedizinisch gebotenen Maxime zu folgen, fünf Mal am Tag Obst und Gemüse zu uns zu nehmen. Statt Torte, Chips und Schweinebraten.
Wie untrennbar Nutzen und Nachteil in unserem evolutionären Erbe verknüpft sind, zeigt das Beispiel Krebs. Der Krankheit liegen nämlich jene Erbanlagen zugrunde, denen wir die Entwicklung unseres Körpers verdanken. Die Gene, die aus einer befruchteten Eizelle einen Organismus mit Billionen von Zellen wachsen lassen und am Leben erhalten, können durch Kopierfehler außer Kontrolle geraten. Dann ist unkontrolliertes, zerstörerisches, schließlich tödliches Wuchern von Zellen die Folge – Krebs. Leben trägt den Tod in sich.
Auf die Frage, warum wir altern, versucht die Evolutionsmedizin ebenfalls Antworten zu finden. Eine Theorie besagt, dass Gene, die in der Jugend vorteilhaft sind, sich im Alter negativ auswirken. Beispiel ist die Anlage zu hohem Blutdruck. Sie kann in der Jugend leistungsfähig machen, etwa durch bessere Durchblutung der Muskeln. Erst in späteren Lebensjahren, wenn der Mensch sich bereits vermehrt hat, muss die Zeche für zu hohen Blutdruck gezahlt werden: Gefäßverkalkung, Schlaganfall, Infarkt.
Auch unsere haarigen Vorfahren in der afrikanischen Savanne profitierten vielleicht vom hohen Blutdruck. Das Lebensalter, in dem Herzinfarkte auftreten, erlebten sie meist gar nicht. Erst bei ihren Nachkommen in der zivilisierten Gegenwart schlägt der Überlebensvorteil ins Gegenteil um.
„Was sich erst im Alter, also nach Abschluss der reproduktiven Phase, als schädlich erweist, befindet sich im toten Winkel der Evolution“, sagt Detlev Ganten, Blutdruckforscher und Chef der Berliner Uniklinik Charité. Solche janusköpfigen Genvarianten können sich deshalb im Erbgut ansammeln.
Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Herzinfarkt und Knochenbrüche, die mit dem Alter häufiger werden, erscheinen als der Zusammenbruch eines Systems, das den Zweck erfüllt hat, seine Gene weiterzugeben. „Der Tod wirkt aus solcher Sicht wie das Sichabwenden der lebensspendenden und lebenserhaltenden Aufsicht der Natur, deren Blick sich ganz auf die neue Generation richtet“, philosophiert der Biologe Markl.
„Nichts in der Medizin ergibt einen Sinn, es sei denn, man betrachtet es im Lichte der Evolution“, schreiben der Psychiater Randolph Nesse und der Biologe George Williams in ihrem Buch „Warum wir krank werden“. Wissenschaftler wie Nesse fordern, die Evolution in die Arztausbildung einzubinden. So würden Klinikärzte und biomedizinische Forscher leichter verstehen, dass „der menschliche Körper und seine Krankheitserreger keine perfekt entworfenen Maschinen sind“. Sondern sich entwickelnde Systeme, Kompromisse des Lebens, voller Einschränkungen und Verletzlichkeit.
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