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Fühlen Sie den Tumor?: Blinde Frauen ertasten kleinste Knoten in der Brust
Die regelmäßige Untersuchung der Brüste ist wichtig zur Früherkennung von Brustkrebs. Manche Menschen haben dafür ein besonderes Gespür. Folge 2 der Serie „Diagnose Krebs“
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Zentimeter für Zentimeter tastet sich Simone Hahn an der Brust ihrer Patientin voran. Behutsam. Lieber noch einmal nachfühlen, bevor sie eine noch so kleine Stelle vergisst. Die Marburgerin ist seit ihrem 16. Lebensjahr vollständig blind. Dafür kann sie umso besser tasten und ist damit prädestiniert für den Job als Medizinisch-Taktile Untersucherin, kurz: MTU. Das heißt: Die 54-Jährige kann mit ihren Händen kleinste Tumore in der weiblichen Brust ertasten.
Die Taktilographie ist neben dem jährlichen Abtasten beim Gynäkologen sowie dem Mammographie-Screening eine ergänzende Diagnoseform in der Brustkrebsfrüherkennung. Früherkennungsmammographien werden von den gesetzlichen Krankenkassen jedoch erst ab einem Alter von 50 Jahren und nur alle zwei Jahre bezahlt. Das Abtasten durch Arzt oder Ärztin wird für Frauen ab 30 Jahren einmal jährlich von den Kassen getragen.
Die Tastuntersuchung durch eine MTU allerdings tragen nicht alle Krankenkassen. Nach Angaben der Organisation „Discovering Hands“, über die die Ausbildung der MTU läuft, sind es derzeit 32 – in Berlin sogar nur 21. Das sind vor allem Betriebskrankenkassen und eine regionale AOK. Zudem zahlten alle Privatversicherungen aktuell die Kosten für die taktile Brustuntersuchung, wie „Discovering Hands“ angibt. Mehr als 100 Arztpraxen in Deutschland sind nach Angaben der Organisation dabei.
Die Ausbildung der Medizinisch-Taktile Untersucherinnen dauert neun Monate. In dieser Zeit erlernen die Teilnehmerinnen ein spezielles Tastverfahren. Dabei gehen die MTU laut „Discovering Hands“ nach einer medizinisch anerkannten und wissenschaftlich abgesicherten Methode vor. Nach eigenen Angaben können sie etwa 30 Prozent mehr Gewebeveränderungen ertasten als Ärztinnen und Ärzte. Diese entdecken Tumore demnach meist ab einer Größe von ein bis zwei Zentimetern. Simone Hahn und ihre Kolleginnen können Knötchen mit einem Durchmesser von sechs und acht Millimetern erkennen – also etwa so groß wie eine Erbse.
Klebestreifen dienen als eine Art Koordinatensystem
Tatsächlich ist wissenschaftlich erwiesen, dass infolge des Erblindens andere Sinne empfindlicher werden. Der Tastsinn, das Gehör und der Riechsinn werden etwa laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum präziser. Damit könnten blinde Menschen sich genau orientieren, trotz fehlender visueller Informationen.
Durch die Blindenschrift sind meine Fingerkuppen sensibilisiert.
Simone Hahn, Medizinisch-Taktile Untersucherin
Simone Hahn greift entschlossen in das Papierschälchen mit Klebestreifen und zieht einige heraus. Die rot-weiß gestreiften Bänder dienen der gelernten Sozialpädagogin als eine Art Koordinatensystem. Die Streifen haben nicht nur eine farbige Markierung, sondern auch punktförmige Erhebungen. Mit deren Hilfe weiß Simone Hahn genau, an welcher Stelle der Brust sich ihre Finger befinden. Je nach Brustgröße braucht Hahn 30 bis 50 Minuten pro Patientin – deutlich länger, als viele Frauenärztinnen und -ärzte dafür aufbringen: Ihnen stehen in der Regel nicht mehr als drei bis vier Minuten zur Verfügung.
Falls die Expertin etwas Auffälliges entdeckt, gibt sie den Befund an den Arzt oder die Ärztin in der Praxis weiter, in der sie als Selbstständige arbeitet. Heute ist sie in einer gynäkologischen Praxis im mittelhessischen Lohra im Einsatz. Immer dabei: Ihr Blindenhund, der tiefenentspannt unter dem Schreibtisch liegt – ganz nah an den Füßen seines Frauchens.
Empathie ist für diese Tätigkeit sehr wichtig
„Wenn ich einen möglichen Tumor fühle, bleibe ich erstmal ruhig“, erzählt Simone Hahn. Empathie sei wichtig für ihren Job. Früher hat sie im Dialogmuseum Frankfurt gearbeitet. Über den Blindenverband sei sie auf die Stelle als MTU aufmerksam geworden.
Ihren besonderen Tastsinn hat Hahn dem Lesen zu verdanken, vermutet sie: „Bei der Blindenschrift sind die Buchstaben ja erhaben und ich glaube, dadurch sind meine Fingerkuppen sensibilisiert“. Das nötige medizinische Wissen habe sie sich in der Ausbildung angeeignet. „Das war ganz schön schwer“, erinnert sie sich.
Auf der Website von „Discovering Hands“ können sich interessierte Patientinnen über eine Praxisfinder-Funktion informieren, welcher Gynäkologe oder welche Gynäkologin in der Nähe die Untersuchungsmethode anbietet. Außerdem sei es möglich, dass die Untersucherinnen Unternehmen besuchen, um den Mitarbeiterinnen vor Ort die Selbstabtastung zu erläutern. Eine regelmäßige Selbstuntersuchung der Brust ist sehr hilfreich. Denn wer die Beschaffenheit der eigenen Brust gut kennt, spürt schon früh Veränderungen im Gewebe. Und Früherkennung ist wichtig: Werden bösartige Veränderungen in der Brust durch eine gute Vorsorge rechtzeitig erkannt, können sie durch eine Therapie an der Ausbreitung gehindert werden.
Patientin Tamara Henke trägt die Kosten für ihre heutige Behandlung selbst. 65 Euro sind das, wie sie erzählt. Jeden Cent sei die Behandlung wert gewesen, sagt die 64-Jährige, die – wie sie selbst meint – eine „Problembrust“ habe. Erleichtert ergänzt sie: „Der Befund war negativ.“ Einmal im Jahr will die Frau ihre Brust nun so checken lassen. Simone Hahn wünscht sich, dass noch mehr Frauen den Beruf ergreifen. Denn bisher sind es bundesweit nur etwa 50. „Wir können damit Leben retten.“
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