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Trauern um ein früh verstorbenes Kind: Sie fühlt sich ihrem Kind tief verbunden, das nur drei Wochen alt wurde
Es brauchte Jahre, bis Dana Woitas mit dem Verlust ihres Babys umgehen lernte. Trost fand sie auch in einer Selbsthilfegruppe und bei einem Trauerbegleiter.
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Dana Woitas trifft sich regelmäßig mit ihrer Tochter. Oft sucht sie dafür denselben Ort aus. Den Berliner Zoo. Dort, auf einer Bank vor dem Robbengehege, nimmt sie sich Zeit für Charlotte. Seit einigen Jahren schon ist der Zoo-Besuch für Dana Woitas ein wichtiges Ritual.
Wenn sie auf der Bank sitzt und den Robben beim Spielen und Balancieren zusieht, ist Charlottes Platz neben ihr auf der Bank immer leer. Denn vor fast zehn Jahren, in der Nacht vom 6. auf den 7. März 2015, verstarb Charlotte, nur drei Wochen, nachdem sie auf die Welt gekommen war. Noch bevor Dana Woitas das erste Mal mit ihr gemeinsam die Tiere im Zoo ansehen konnte. Aber sie ist sich sicher: Charlotte hätte die Robben bestimmt gemocht.
An der Bank, für die Dana Woitas eine Patenschaft übernommen hat, ist heute eine kleine goldene Plakette befestigt. Darauf steht: „Charlotte Woitas – Berlin 2015“.

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Charlotte war ein Vorzeige-Baby. Sie entwickelte sich gut. „Sie hatte Willen und Charakter, aber sie hat es mir trotzdem leicht gemacht“, sagt Dana Woitas. Doch dann kam der plötzliche Kindstod. „Sie ist einfach nicht mehr aufgewacht, ohne dass die Ärzte eine Ursache dafür finden konnten.“
Ich habe verstanden, dass traurig zu sein kein schlechtes Gefühl ist. Es ist ein Zeichen, dass ich lebendig bin.
Dana Woitas
Während der Schwangerschaft habe sie sich oft vorgestellt, wie es sein würde, mit Charlotte in den Zoo zu gehen, erzählt Dana Woitas. Vor allem zu den Robben, die sie selbst so liebgewonnen hat. Das macht den Ort für sie auch heute noch zu etwas Besonderem. „Für mich bedeutet er Leben. Dort denke ich an meine Tochter und fühle mich ihr näher, als wenn ich ihr Grab besuche. Da ist sie irgendwie nicht so richtig.“
Dana Woitas wirkt wie eine aufgeräumte, lebensfrohe Frau. Eine Frau, der man im Gespräch auch anmerkt, dass sie sich lange und intensiv mit dem Thema Trauer auseinandergesetzt hat – und mit ihren eigenen Gefühlen. „Im Lauf der Jahre haben sich die Gefühle und die Trauer verändert“, sagt die heute 43-Jährige. „In den Wochen und Monaten nach Charlottes Tod war es die pure Verzweiflung. Es war schrecklich, ich wollte damals nicht mehr leben.“
Noch am Tag nach Charlottes Tod begab sie sich deshalb in eine Klinik. „Ich war wie taub, wie in Watte gepackt, ich habe einfach gar nichts mehr gefühlt“, sagt Dana Woitas. „Das ist das Schlimmste.“
Stück für Stück ist die Taubheit der Traurigkeit gewichen. Sie ist bis heute eine Begleiterin, die sich punktuell bemerkbar macht. Beim Zoobesuch, in der Trauergruppe, die Dana Woitas einmal im Monat besucht. Aber auch an besonderen Tagen wie Charlottes Todestag oder Heiligabend. „Diese Inseln zu schaffen, hat mir dabei geholfen, dass ich im Rest der Zeit kein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich ganz normal am Leben teilgenommen und auch schöne Dinge erlebt habe.“
In diesen Momenten traurig zu sein, sei für sie in Ordnung, sagt Dana Woitas. „Ich habe verstanden, dass traurig zu sein kein schlechtes Gefühl ist. Es ist ein Zeichen, dass ich lebendig bin.“
Das Verständnis für die Trauer lässt nach
Einige der wichtigsten plastischen Erinnerungen an ihre Tochter – ein Fotoalbum mit Bildern aus den Wochen nach ihrer Geburt und zwei Teddybären, die Charlotte damals geschenkt bekam – hat Dana Woitas aufgehoben. Sie stehen in einem Regalfach in ihrem Schlafzimmer. „Ungefähr ein Jahr lang habe ich mir die Bilder nicht ein einziges Mal ansehen können. Mittlerweile habe ich sogar viele neue Fotos dazugeklebt, mit Motiven, auf denen ich gemeinsam mit lieben Menschen Charlottes Andenken gefeiert habe.“ Auch wenn ihre Tochter nicht anwesend ist, so ist sie doch ein wichtiger Teil von Dana Woitas‘ Leben.
„Früher ist man mit dem Thema Trauer oft ganz anders umgegangen“, sagt Michael Bolz. Der evangelische Pfarrer ist Seelsorger und Trauerbegleiter am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin. „Es herrschte lange Zeit die Meinung vor, dass man irgendwann loslassen und den Verlust abhaken müsse.“ Die neuere Trauerforschung sei in dieser Hinsicht sehr viel gnädiger mit den Hinterbliebenen und empfehle stattdessen: Der oder die Verstorbene solle einen Platz im Leben behalten.
Meist dauert es Monate oder Jahre, bis sich Eltern die Fotos oder Videos ansehen. Aber vielen hilft es.

Michael Bolz, Seelsorger und Trauerbegleiter
Eine wichtige Rolle spielen dabei die Erinnerungen. „Ich sage den Eltern immer: Es ist gut, möglichst viele Erinnerungen mitzunehmen, auch wenn die Zeit mit dem Kind nur sehr kurz war oder es bereits tot auf die Welt gekommen ist“, sagt Bolz. Videos, Tonaufnahmen, Bilder, eine Decke, in die das Kind eingewickelt war – all das könne später bei der Trauer unterstützen. „Meist dauert es Monate oder Jahre, bis sich Eltern diese Dinge ansehen, manche tun es auch nie. Aber vielen hilft es tatsächlich.“
Ich habe häufiger in meinem Leben die Frage gestellt bekommen, ob denn nun alles wieder okay sei.
Dana Woitas
Gemeinsam mit einer Kollegin betreut Michael Bolz die Trauergruppe, die auch Dana Woitas in regelmäßigen Abständen besucht. Es ist eine Trauergruppe für Eltern von Sternenkindern, Kindern, die vor, während oder kurz nach ihrer Geburt verstorben sind. Viele der Eltern hätten einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit oder vielleicht auch beides, an denen ihr Kind besonders präsent ist.
„Es ist, bildlich gesprochen, wie ein Fach in einem Regal, das ganz speziell dem Kind gewidmet ist“, sagt Michael Bolz. „Der Gedanke dahinter ist: Es gibt dieses Fach mit all den Erinnerungen und auch mit der Trauer, es gibt aber daneben auch viele andere Fächer.“ Denn das Leben der Eltern darf und soll ja weitergehen.

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Wann der Alltag weitergeht und wie, das ist jedoch sehr verschieden. „Ich habe häufiger in meinem Leben die Frage gestellt bekommen, ob denn nun alles wieder okay sei, vor allem nach intensiveren Trauerphasen“, sagt Dana Woitas.
Dabei beansprucht die Trauer die Hinterbliebenen enorm, psychisch und mitunter auch körperlich. „Wir sprechen nicht zufällig von Trauerarbeit“, sagt Michael Bolz. Das anzuerkennen, falle den Trauernden oft schwer. „Es gibt viele, die sagen: ,Ich bin ja eigentlich nicht krank und trotzdem gehe ich schon seit Monaten nicht zur Arbeit.‘ Dabei ist die Trauer selbst Arbeit. Wer dazu noch zur Arbeit geht, macht also einen doppelten Job.“
Für Familie und Freunde sei es das Schwierigste, die Trauernden auszuhalten, heißt es mitunter. Da scheint etwas dran zu sein. „Die betroffenen Eltern berichten oft, dass sie in den ersten Wochen nach dem Tod ihres Kindes viel Beistand und jede Menge Unterstützungsangebote bekommen“, sagt Trauerbegleiter Bolz. „Das ändert sich aber nach rund einem Vierteljahr. Viele, die anfangs noch präsent waren, ziehen sich zurück, das Verständnis für die Trauer wird weniger.“
Diese Erfahrung hat auch Dana Woitas gemacht. Vor allem zu Beginn habe sie viel Zuwendung und Unterstützung erfahren. „Aber Trauer kann auch etwas sehr Einsames sein. Kaum jemand hört gern zu, wenn ein Mensch von seiner tiefen Verzweiflung erzählt.“ Nach rund einem halben Jahr seien Interesse und Verständnis für ihre Situation allmählich weniger geworden. Vielleicht auch, weil sich Außenstehende überfordert fühlen? Weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen?
Ich habe den Tod meiner Tochter akzeptiert. Akzeptieren heißt aber nicht, damit einverstanden zu sein oder auch nur einen Funken Gutes darin zu sehen.
Dana Woitas
„Ich finde es völlig okay, das auszudrücken und zu sagen, dass man nicht weiß, was man sagen soll“, sagt Dana Woitas. Sie hat selbst und im Gespräch mit anderen Eltern die Erfahrung gewonnen, dass es vor allem zwei Dinge sind, die hilfreich sein können für trauernde Menschen. „Das ist zum einen: wenig sagen und gleichzeitig viel zuhören wollen, vielleicht auch Fragen stellen, wenn man die Antworten denn aushält. Und zum anderen: nach sechs Monaten nicht aufhören. Das ist wirklich wichtig.“
Freunde und Familie können Trauernden auf diese Weise Halt geben, sie stützen. Oder aber als Stütze wegbrechen. „Es ist gar nicht so selten, dass sich in einer Trauerphase Freundschaften und Beziehungen innerhalb der Familie verändern, auflösen oder zumindest temporär auflösen“, sagt Michael Bolz. Trauer sei noch immer ein Tabuthema, verbunden mit großen Berührungsängsten, mitunter selbst bei den engsten Vertrauten.
Eine Entscheidung fürs Leben
Gruppen, in denen Eltern auf andere Eltern treffen, die die gleichen schmerzhaften Erfahrungen gemacht und die gleiche Verzweiflung gespürt haben, können helfen, diese Lücke zu füllen. „Hier in der Gruppe bin ich Charlottes Mama“, sagt Dana Woitas. „Von den Menschen, die mich und meinen Alltag außerhalb der Gruppe kennenlernen, kennt mich ja kaum jemand in dieser Rolle.“
Ebenso hilfreich ist die professionelle Unterstützung. „Natürlich kann ich den Schmerz der Eltern nicht selbst fühlen, weil ich kein Kind verloren habe“, sagt Trauerbegleiter Bolz. „Aber ich kann ihn zumindest gemeinsam mit ihnen aushalten.“
Dana Woitas hat nach dem Tod ihrer Tochter Charlotte kein zweites Kind bekommen. In ihrem Bekanntenkreis sind in der Zwischenzeit viele Kinder zur Welt gekommen. Einige gehen heute schon zur Schule. Was macht das mit ihr? „Ich verbringe gerne Zeit mit ihnen und den Familien, solange ich weiß, dass ich dort mit meiner Tochter und meiner Geschichte willkommen bin.“ Es gebe aber auch einfach Tage, „da muss ich dann zwischendurch mal für 20 Minuten vor die Tür gehen. Ich habe das große Glück, von Menschen umgeben zu sein, bei denen dies möglich ist. Denn im Allgemeinen kommen nicht alle damit zurecht.“
Trotzdem habe es auch die anderen Zeiten gegeben, die, in denen sie mit ihrem Schicksal gehadert habe, sagt Dana Woitas. „Aber auf die Frage nach dem Warum gibt es schlicht keine Antwort.“ Mittlerweile habe sie den Tod ihrer Tochter akzeptiert. „Akzeptieren heißt aber nicht, damit einverstanden zu sein oder auch nur einen Funken Gutes darin zu sehen. Es heißt einfach, dass ich aufgehört habe, gegen die Realität anzukämpfen.“
Hätte sie sich ein zweites Kind überhaupt vorstellen können? „Ich hatte lange Zeit das Bedürfnis, kein weiteres Kind zu bekommen, weil ich die Gefahr in mir gespürt habe, dass es sich wie ein ‚Ersatz‘ anfühlen könnte. Das wollte ich auf keinen Fall.“ Mit Ende 30 habe sie sich schließlich doch offen dafür gefühlt. „Aber ich war zu dieser Zeit in keiner festen Partnerschaft und wollte nichts übers Knie brechen.“
Kurz vor ihrem 40. Geburtstag fällte sie deshalb eine Entscheidung. „Ich habe beschlossen, dass ich keine weiteren eigenen Kinder bekommen werde.“ Seitdem gehe es ihr besser. „Ich bereue diese Entscheidung nicht, gleichzeitig werde ich mein Leben lang darüber traurig sein, keine eigenen Kinder aufwachsen zu sehen.“
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