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Der Bürgermeister der Stadt Istanbul, Ekrem Imamoglu, hält eine Rede anlässlich des ersten Spatenstichs für das Dienstleistungsgebäude der Stadtverwaltung Prince Islands in Istanbul, Türkei. Imamoglu, der weithin als der größte Konkurrent von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Falle einer vorgezogenen Wahl angesehen wird, hat in letzter Zeit in seiner Funktion als Bürgermeister Infrastrukturprojekten und der Umgestaltung der Stadt Priorität eingeräumt.

© IMAGO/ZUMA Press Wire/Tolga Ildun

Update

Anwalt wieder frei: Abgesetzter Istanbuler Bürgermeister Imamoglu meldet Festnahme seines Anwalts

Nach der umstrittenen Festnahme von Imamoglu wurde nun auch sein Anwalt verhaftet. Der Anwalt ist mittlerweile wieder frei. Doch einige weitere Journalisten sind dagegen in Gewahrsam.

Stand:

Der festgenommene Anwalt des inhaftierten Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu ist aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden. Er wurde unter der Bedingung einer Ausreisesperre freigelassen, wie die Nachrichtenagentur Anandolu weiter berichtete. Dem Anwalt wurde Geldwäsche vorgeworfen.

Imamoglu ist der aussichtsreichste Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdogan und befindet sich im Gefängnis. Seine Festnahme vor mehr als einer Woche löste in der Türkei die größten Demonstrationen seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 aus. Am Sonntag wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen.

Imamoglus linksnationalistische Partei CHP sprach von einem „Putsch“, mit dem der Erdogan-Rivale kaltgestellt werden solle. Der Staatschef seinerseits bezeichnete die Proteste wiederholt als „Straßenterror“.

Ins Visier der Behörden geraten zunehmend Journalisten. Der Chefredakteur der schwedischen Zeitung „Dagens ETC“, Andreas Gustavsson, berichtete, dass ein Mitarbeiter am Donnerstag nach der Landung in Istanbul zum Verhör abgeholt worden sei. „Ich weiß nicht, wo er ist. Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Nicht, ob er verhört wird. Auch nicht, ob er abgeschoben wird“, so Gustavsson. 

Die Regierung geht mit zunehmender Härte gegen Medien vor, die über die Proteste berichten. Am Freitag wurden der Journalistengewerkschaft TGS zufolge im Morgengrauen zwei Journalistinnen festgenommen.

Anfang der Woche waren bereits elf Journalisten festgenommen worden, darunter der AFP-Fotograf Yasin Akgül. Sie wurden inzwischen wieder freigelassen.

Journalist der BBC wurde bereits abgeschoben

Am Donnerstag war ein Journalist des britischen Senders BBC festgenommen und aus der Türkei abgeschoben worden. Er hatte sich nach Angaben des Senders mehrere Tage in der Türkei aufgehalten, um über die anhaltenden Proteste gegen die Inhaftierung und Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu zu berichten. Das türkische Kommunikationsdirektorat sagte, er sei nicht im Besitz einer gültigen Presseakkreditierung gewesen. 

Laut dem türkischen Innenministerium wurden seit Beginn der Proteste fast 1900 Menschen vorübergehend festgenommen, darunter zahlreiche Journalisten.

Türkei unter Erdogan in „Republik der Angst“ verwandelt

Erdogan hat nach Ansicht des inhaftierten und abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu die Türkei in eine „Republik der Angst“ verwandelt. „Jahrelang hat Erdogans Regime die demokratischen Kontrollmechanismen ausgehebelt, indem es die Medien zum Schweigen brachte, gewählte Bürgermeister durch Bürokraten ersetzte, die Legislative ausschaltete, die Justiz kontrollierte und Wahlen manipulierte“, schrieb Imamoglu in einem Gastbeitrag bei der „New York Times“. 

Der 53-Jährige wird zurzeit im bekannten Marmara-Gefängnis in Silivri nahe istanbul festgehalten. Vergangene Woche wurde der beliebte Oppositionspolitiker nach Korruptions- und Terrorvorwürfen festgenommen. . 

„Die massenhaften Verhaftungen von Demonstranten und Journalisten in den letzten Monaten haben eine abschreckende Botschaft vermittelt: Niemand ist sicher“, schrieb Imamoglu. „Unter Erdogan hat sich die Republik in eine Republik der Angst verwandelt.“ Doch die Menschen in der Türkei reagierten mit Widerstand. „Das Zeitalter der unkontrollierten Machthaber verlangt, dass diejenigen, die an die Demokratie glauben, genauso lautstark, energisch und unnachgiebig sind wie ihre Gegner“, so Imamoglu.

Der Oppositionspolitiker kritisierte dabei auch einen Mangel an Anteilnahme aus dem Ausland: „Aber die Zentralregierungen in aller Welt? Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend.“ Washington äußere sich lediglich „besorgt über die jüngsten Verhaftungen und Proteste“ in der Türkei, so Imamoglu. „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht mit Nachdruck reagiert.“

Özdemir: Das Ausmaß der Proteste in der Türkei hat Erdogan überrascht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nach den Worten des Grünen-Politikers Cem Özdemir nicht damit gerechnet, dass die Verhaftung des beliebten Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu eine derart heftige Reaktion in der Bevölkerung auslösen würde. „Das Ausmaß der Proteste hat das Regime vermutlich überrascht, weil Erdogan in der Vergangenheit mit seinen Manövern durchgekommen ist“, sagte Özdemir im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. 

Dabei sei es keineswegs das erste Mal, dass der türkische Präsident radikal gegen Widersacher vorgeht, sagte der Grünen-Politiker. Mit Selahattin Demirtas, dem damaligen Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP (heute DEM), habe Erdogan „schon einmal einen Konkurrenten quasi aus dem Weg geräumt“. Demirtas sitzt demnach bereits seit 2016 „ohne nachvollziehbaren Grund“ im Gefängnis. „Mich ärgert, dass darüber kaum jemand spricht“, fügte der Politiker mit türkischen Wurzeln hinzu, der derzeit Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft sowie für Bildung und Forschung ist. 

Seit der Festnahme des mittlerweile suspendierten Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu in der vergangenen Woche gehen in der Türkei jeden Abend Zehntausende Menschen auf die Straße.  

Die Proteste seit der Festnahme Imamoglus sind die größten seit den sogenannten Gezi-Protesten gegen die Regierung im Jahr 2013 – und sie könnten diese möglicherweise sogar in den Schatten stellen „Die Gezi-Proteste kamen zunächst aus der Subkultur. Viele haben zwar mit ihnen sympathisiert, es war aber keine Massenbewegung im ganzen Land“, sagte Özdemir. „Das könnte nun anders werden.“ 

Der türkischen Regierung stehe eine „zunehmend kritische Zivilgesellschaft gegenüber. Viele Menschen in der Türkei haben Zukunftsängste. Ihnen fehlt die Perspektive im eigenen Land“, sagte Özdemir. Viele hätten Sorgen um die grundsätzliche Ausrichtung des Landes – etwa hinsichtlich der angestrebten EU-Mitgliedschaft. Und auch wirtschaftlich habe die Türkei enorme Probleme.

Özdemir äußerte sich auch zu Vorwürfen, der Westen habe sich – womöglich weil er in der aktuellen geopolitischen Lage auf die Türkei angewiesen ist – nach Imamoglus Verhaftung mit Kritik an Erdogan zurückgehalten: „In Europa neigen wir dazu, zu vergessen, dass die Türkei auch uns braucht. Wir sind ein wichtiger Absatzmarkt, es gibt eine enge wirtschaftliche Verflechtung. Wir sollten nicht so tun, als wären wir Bittsteller.“ 

Im Umgang mit der Türkei fordert Özdemir „Kooperation und Kritik“ zugleich: „Naivität im Umgang mit Autokratien können wir uns nicht mehr leisten. Erdogan ist kein verlässlicher Partner. Kooperation und klare Kritik – wir brauchen beides, sonst machen wir uns unglaubwürdig.“

Gleichzeitig räumte Özdemir ein, dass Europa aufgrund der „extrem fragilen und komplexen weltpolitischen Lage“ geostrategische Interessen vertreten müsse. „Wir müssen auch mit autokratischen Regimen reden und verhandeln. Aber wir dürfen nicht blind und taub werden. Uns verbindet viel mit der Türkei. Aber wir müssen deutlich machen, dass unsere Solidarität den mutigen Menschen auf den Straßen gehört.“

Die nächste Präsidentschaftswahl in der Türkei findet erst 2028 statt. Erdogan scheint jedoch jetzt schon auf eine weitere Amtszeit hinzuarbeiten. Nach der aktuellen Verfassung darf er zwar nicht noch einmal antreten. Es wird jedoch spekuliert, dass der Langzeitpräsident vorgezogene Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung anstrebt, die ihm den Weg zu einer erneuten Präsidentschaft ebnen könnten. Um Neuwahlen herbeizuführen oder eine Verfassungsänderung durchzusetzen, braucht Erdogan allerdings eine Mehrheit im Parlament, die sein Regierungsbündnis derzeit nicht hat.

„Erdogan hat Angst vor der nächsten Präsidentschaftswahl – selbst wenn die Wahlen unfair sind“, erklärte Özdemir. „Früher musste Erdogan nicht betrügen, um Wahlen zu gewinnen. Jetzt fürchtet er, dass er eine Wahl selbst dann nicht mehr gewinnen kann, wenn er sie massiv manipuliert und die Opposition ausschließt.“ (AFP, dpa)

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