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Olena Yahupova in Freiheit.

© Caspar Ermert

„Da wusste ich: Sie werden mich foltern und töten“: Seit ihrer Flucht jagt eine Ukrainerin ihre Peiniger

Die Ukrainerin Olena Yahupova wurde gefoltert und an einen russischen Offizier verkauft, der sie missbrauchte. Seit ihrer Flucht hat sie nur ein Ziel: die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Stand:

Olena liegt in einer Dezembernacht auf dem kalten Betonboden, zusammengekauert, nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Mit zehn anderen ist sie eingesperrt in einer Zelle, die für drei Personen gedacht ist.

Plötzlich stürmen die Wärter herein und beginnen mit einem Gewaltexzess, der mittlerweile zum Alltag geworden ist für die Frau, die kürzlich in einer Nacht wie dieser, in einem Keller wie diesem, 50 Jahre alt geworden ist.

Nachdem der russische Geheimdienst FSB sie im Oktober 2022 aus ihrem Haus im südukrainischen Kamjanka-Dniprowska verschleppt hatte, wurde sie immer wieder verlegt, von einem Haus zum nächsten gebracht. Der Horror, den sie erlebte, veränderte sich kaum.

Drei Jahre später ist Olena Yahupova in der Lage, dem Tagesspiegel von ihren Erfahrungen in russischer Geiselhaft zu berichten. Mittlerweile lebt sie in der freien Ukraine, ihren Peinigern konnte sie entkommen.

In jener Nacht kurz nach ihrem Geburtstag, erinnert sie sich, hätten die Wärter mit Schlagstöcken auf zufällig ausgewählte Mitinsassen eingeprügelt. Olena zwangen sie, das grausame Schauspiel mit der russischen Nationalhymne zu besingen. So ging das, bis die Geprügelten nicht mehr laufen, essen und trinken konnten.

Danach wurden die Verletzten aus der Zelle gezogen. Nicht alle von ihnen kehrten zurück, sagt die mittlerweile 53-Jährige. „Wahrscheinlich wurden sie erschossen.“


Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Die Erinnerung tut weh. Auszusprechen, was ihr in den fünf Monaten ihrer Gefangenschaft im besetzten Saporischschja angetan wurde, lasse es wieder wahr werden. So, als würde es erneut geschehen.

Trotzdem spricht sie. „Ich habe nicht das Recht, zu schweigen“, sagt Olena Yahupova. Bei russischen Folterkellern denke man nämlich nur an ukrainische Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten sind, aber nicht an friedliche ukrainische Zivilisten, die durch russische Besatzungsbehörden gekidnappt, gefoltert, vergewaltigt, verkauft und getötet werden.

Nur einige konnten wie Olena fliehen. Noch weniger sprechen öffentlich über das Erlebte. Für viele ist es zu schmerzhaft. Andere sorgen sich um ihre Angehörigen, die noch unter den russischen Besatzern leben.

Olena Yahupova zeigt ein Bild ihres ersten Folterers, der nach ihrer Aussage zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde – in Abwesenheit.

© Caspar Ermert

Die Russen wissen, wo sie in der freien Ukraine lebt, sagt Olena. Sie wüssten auch, was sie isst, was sie trinkt, mit welchen Journalisten sie sich wann für Interviews trifft. „Die Besatzer haben ein großes Interesse, dass ich aufhöre, über meine Erfahrung zu sprechen“, sagt die Überlebende dem Tagesspiegel.

Nachdem ukrainische Medien erstmals über Olena berichtet hatten, tauchten mehrere vermummte Männer bei Bekannten in ihrer okkupierten Heimatstadt auf und stellten unangenehme Fragen, berichtet sie.

Olena nimmt es in Kauf, zur Zielscheibe zu werden. Denn: „Ich will, dass sie schlecht schlafen, wenn sie meinen Namen lesen, meine Bilder sehen – und ich ihre Namen und Bilder öffentlich mache.“

Über die Verbrechen, die ihr angetan wurden, spricht sie mit Medien und ukrainischen Behörden. Auch das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) hat ihren Fall registriert. Dafür musste sie eine Vielzahl von Dokumenten einreichen, inklusive medizinischer, juristischer und psychiatrischer Gutachten.

Mit Sorge beobachtet sie die jüngsten Entwicklungen rund um den Friedensplan von US-Präsident Donald Trump: Eine Amnestie für alle in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen, wie darin gefordert, würde Olenas Pläne zunichtemachen.

Olena Yahupova steht vor mehreren Ordnern mit Akten und Dokumenten, die nachweisen sollen, was ihr widerfahren ist.

© Caspar Ermert

Ihre Geschichte begreift sie nur als Spitze des Eisbergs. Indem sie ihr Schicksal öffentlich macht, möchte Olena einen Grundstein für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen legen, die russische Besatzungskräfte an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen haben.

Das sei auch irgendwie ironisch, sagt sie. Denn auf diese Idee brachte sie erst einer ihrer Peiniger, als er ihr ein Buch zu den Nürnberger Prozessen vor die Füße warf. Sie solle darin lesen, um zu verstehen, warum Russland vermeintliche ukrainische Nazis ihrer gerechten Strafe zuführe. Olena las – und fand in ihm, was er in ihr sah.


Drei Monate Hölle

Nach Russlands Vollinvasion im Februar 2022 wusste Olena, dass früher oder später russische Beamte vor ihrer Tür stehen würden. Schließlich hatte sie vor der Besatzung 24 Jahre lang in der ukrainischen Verwaltung gearbeitet. „Beamte der Ukraine und Lehrkräfte für Geschichte und Ukrainisch wurden oft von den Besatzern mitgenommen“, sagt sie. „Danach waren sie wie vom Erdboden verschluckt.“

Am 6. Oktober 2022 holten die Männer auch Olena. Nur sie, denn ihr Mann Artur befand sich in der Region Charkiw. Schon seit 2020 kämpft er gegen Russland. Ihre drei Töchter lebten zu dem Zeitpunkt bereits in der Westukraine und im Ausland. 

Zum Schluss schlug er auf meinen Kopf mit einem großen Wasserkanister ein.

Olena Yahupova erinnert sich an die erste Nacht, in der sie Folter erlebte.

Mehrere bewaffnete Beamte des FSB erschienen vor ihrem Haus. Nur eine Woche war vergangen, seit Russland die Region Saporischschja am 30. September annektiert hatte.

Der FSB verwüstete nicht nur die Zimmer, stahl ihr Auto und verschleppte sie in die örtliche Polizeistation. Die Männer erschossen auch ihre Hündin Hella. Bis heute ist das für Olena einer der schmerzhaftesten Momente, trotz der traumatisierenden Monate, die sie danach erleben sollte.

Olenas Hündin – ihre „beste Freundin“ – wurde am 6. Oktober 2022 von FSB-Beamten erschossen.

© privat

Ihre Verschleppung geschah, so sagt sie, unter der Führung von Jan Sanewski, einem jungen FSB-Beamten, der sich vor ihr ausgewiesen haben soll. Erst zwei Jahre später habe sie erfahren, dass Sanewski nicht nur irgendein Agent war, sondern Verbindungen „nach ganz oben“ haben soll.

Dass der Mann sein Gesicht zeigte und seinen echten Namen preisgab, war für Olena sofort ein schlechtes Zeichen: „Er ging davon aus, dass ich das, was kommen sollte, sowieso niemandem erzählen könnte, weil ich vorher sterben würde. Da wusste ich: Sie werden mich foltern und töten.“ 

Als sie nach der Verschleppung zum ersten Mal gequält wurde, habe Sanewski um jeden Preis den Aufenthaltsort ihres kämpfenden Ehemannes erfahren wollen, sagt sie. Außerdem habe er versucht, ihr ein Geständnis abzuringen: Olena sollte zugeben, dass sie zu einer Sabotagegruppe gehörte, oder andere Ukrainer denunzieren.

Solche Geständnisse, sagt Olena, lohnen sich für die Folterer. Russophobe Partisanen, proukrainische Terroristen und kriegerische Faschisten zu (er)finden, erhöhe das Ansehen der Beteiligten innerhalb des Systems und würde teilweise mit Sonderzahlungen belohnt, erzählt sie. Auch andere ukrainische Überlebende russischer Folter haben dies dem Tagesspiegel bestätigt.

Auch die Männer wurden vergewaltigt, aber keiner von ihnen spricht darüber.

Olena Yahupova

Fünf Stunden lang hätten die Männer sie mit Stromstößen gefoltert, mit Kabeln gewürgt, mit Klebeband eine Plastiktüte über ihrem Kopf fixiert und Scheinhinrichtungen durchgeführt. Außerdem sollen sie immer wieder Leibesvisitationen durchgeführt und mit einer Massenvergewaltigung durch tschetschenische Besatzungssoldaten gedroht haben. „Zum Schluss schlug er meinen Kopf mit einem großen Wasserkanister ein“, erinnert sich Olena.

In den folgenden drei Monaten ihrer „Untersuchungshaft“ wurde sie nie vor ein Gericht gestellt. Sie spricht von „unmenschlichen Lebensbedingungen“, die nicht alle überstanden hätten. Mitinsassen sagten ihr, sie habe noch „Glück gehabt“ mit der Folter, die sie durchstehen musste. Anderen wären Nägel gezogen, Finger gebrochen, Zähne ausgeschlagen und Bäuche aufgeschnitten worden.

Nur drei Jahre nach all den Gewaltexzessen, die Olena Yahupova miterleben musste, schildert sie diese im Detail, ohne je die Fassung zu verlieren.

© Caspar Ermert

Auch sexualisierte Gewalt soll an der Tagesordnung gewesen sein. Ohne eine Gesichtsregung beschreibt Olena minutenlang und detailliert verschiedenste sexuelle Erniedrigungen, denen sie und andere Insassen ausgesetzt gewesen seien. „Auch die Männer wurden vergewaltigt, aber keiner von ihnen spricht darüber.“

Was sie die Tortur durchhalten ließ, waren der Gedanke an ihre Familie und die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Olena nahm sich vor, zu überleben, und sich so viel zu merken wie nur möglich, um später als Zeugin und Anklägerin ihre Peiniger vor Gericht zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie nicht, dass es noch schlimmer werden, dass sie einige Wochen später an einen anderen Täter verkauft werden würde.

Heute leidet Olena an irreparablen physischen Einschränkungen, die in der Ukraine als Behinderung zweiten Grades anerkannt werden. Seit ihrer Flucht in die Freiheit ergaben ärztliche Untersuchungen, dass Jan Sanewski zwei ihrer Bandscheiben im Halswirbelbereich herausgeschlagen und ihr ein Schädel-Hirn-Trauma zugefügt hatte.

„Meine Arme und Beine waren deshalb monatelang taub, ich hatte ständig Kopfschmerzen und verlor oft mein Bewusstsein“, sagt Olena. Außerdem leidet sie seither an Verletzungen der Hüfte und Schultergelenke. Noch immer unterzieht sie sich deswegen Operationen.

Olena Yahupova auf einer Intensivstation in Kyjiw. Zwei Bandscheiben im Halswirbelbereich mussten entfernt und durch zwei Implantate ersetzt werden.

© privat

Durch ihre Anzeige bei den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden und dank ihrer Kooperation mit dem Investigativteam von Suspilne, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Ukraine, wurde gegen Sanewski ermittelt.

Suspilne berichtete, dass er gerade einmal 27 Jahre alt war, als er Olena verschleppte und folterte. Und: dass Jan Sanewski demnach der Sohn von Wjatscheslaw Sanewski ist, dem ehemaligen Chef des Sicherheitsdienstes des ukrainischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch. Diese Verbindung wird auch in einem 19-seitigen Dokument der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft bestätigt, die Sanewski offiziell vorlud, nur wenige Tage nach Olena Yahupovas Anzeige.

FSB-Mitarbeiter Jan Sanewski. Er hat Olena Yahupova verschleppt und gefoltert. In Abwesenheit wurde er von einem ukrainischen Gericht zu zwölf Jahren Freiheitsentzug und einer Geldstrafe verurteilt.

© privat

Olenas Anklage war erfolgreich: Ein ukrainisches Gericht verurteilte den in Moskau gemeldeten Jan Sanewski in Abwesenheit zu zwölf Jahren Freiheitsentzug und zu einer finanziellen Entschädigung, die er an Olena zu zahlen hat. Die Berufung von Sanewskis Anwalt wurde in der vergangenen Woche abgelehnt.


Die russische Lüge

Im Januar 2023, drei Monate nach Olenas Verschleppung, ist sie im russischen Staatsfernsehen zu sehen. Sie und zwei weitere Häftlinge, deren volle Namen dem Tagesspiegel bekannt sind, werden dort bloßgestellt.

Ukraine Olena

© Tagesspiegel/Screenshot: RIA Novosti

Zum einen Kostja, von dem Olena heute nicht weiß, wo er ist – oder ob er noch lebt.

Er kommt aus Enerhodar, das von Russland im Frühling 2022 besetzt wurde und nur 70 Kilometer vom Ort der Videoaufnahme liegt.

Ukraine Olena

© Tagesspiegel/Screenshot: RIA Novosti

Zum anderen ein etwas älterer Mann, den Olena liebevoll Kolja nennt. Auch er hat vor den Videoaufnahmen Folter erlebt.

Ukraine Olena

© Tagesspiegel/Screenshot: RIA Novosti

Ein Vermummter mit dem Rufnamen „Batman“ liest ihre jeweiligen Anklagen auf Russisch vor. Kostja und Kolja seien antirussisch und daher in der mittlerweile von Russland annektierten Region nicht willkommen, sagt er.

Ukraine Olena

© RIA NOVOSTI

Dann ist Olena an der Reihe.

„Batman“ wirft ihr vor, die Behörden der Russischen Föderation und der Besatzungsorgane in Saporischschja diskreditiert zu haben.

Ukraine Olena

© Tagesspiegel/Screenshot: RIA Novosti

Daraufhin bekommen die drei Verschleppten ihre ukrainischen Pässe ausgehändigt und werden dazu angehalten, einander an die Hände zu nehmen und die besetzte Ukraine zu Fuß zu verlassen.

Sie sollen Richtung Norden gehen, in die freie Ukraine.

„Ich dachte, wir würden von hinten erschossen werden“, erinnert sich Olena.

Ukraine Olena

© Tagesspiegel/Screenshot: RIA Novosti

All das wird von Rostislaw Schurawljow begleitet, einem bekannten Kriegsreporter der russischen Staatsnachrichten. „Sie laufen jetzt durch die graue Zone Richtung Ukraine“, sagt er. „Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.“

Olena sagt heute, dass mit solchen Fernsehbeiträgen russische Bürger belogen werden. Als ob jeder die besetzten Gebiete Richtung Ukraine verlassen könne, dem es dort nicht gefällt. Zugleich können die Besatzungsbeamten die Verantwortung für den weiteren Verbleib der Menschen von sich weisen.

So hätte „Batman“ freie Hand, mit den drei Gefangenen zu tun, was er wolle. Olena, Kostja und Kolja gingen nämlich nicht in die freie Ukraine. Nach den Dreharbeiten seien sie, so erinnert sich Olena, in den Kofferraum eines Autos geladen und zu einem russischen Militärangehörigen gebracht worden. Der Offizier drückte ihnen Schaufeln in die Hand und sagte: „Jetzt ist es an der Zeit, für das Wohl der Russischen Föderation zu arbeiten.“


Das System des Missbrauchs

Dieselben ukrainischen Investigativ-Journalisten, die bereits zu Jan Sanewski recherchierten, konnten bis November 2024 insgesamt 31 „Deportationen“ vor laufender Kamera durch „Batman“ feststellen. Wer von den Verschleppten wirklich abgeschoben wurde und wer stattdessen in Zwangsarbeit geriet, lässt sich nicht sagen.

„Batman handelte mit Menschen, als wären sie austauschbare Ware. Er nannte uns ,Indianer’, als er uns an den Offizier verkaufte“, sagt Olena. In welcher Form der „Menschenhändler“, wie sie ihn nennt, von Militärangehörigen für die von ihm zugelieferten Menschen bezahlt wurde, kann sie nur vermuten: „Vielleicht kaufte der Offizier mich mit Bargeld, vielleicht mit einem Auto oder einem anderen Wertgegenstand.“

Nicht nur die Mindestzahl seiner Opfer, auch die wahre Identität von „Batman“ wollten die Journalisten aufdecken. Sie durchforsteten soziale Netzwerke und Datingplattformen, prüften, verifizierten und verglichen Daten sowie Fotos, bis sie schließlich den Mann fanden, den sie für „Batman“ hielten. Mehrere seiner Opfer, darunter auch Olena, erkannten ihn wieder: als denjenigen, der sie verkauft oder deportiert hatte.

Aus diesem Grund spricht Olena selten von „Batman“ – für sie ist er Roman Wnukov.

Wnukov ist 36 Jahre alt, stammt aus der Region Donezk und kämpft seit 2015 gegen die Ukraine. In mindestens zwei prorussischen Telegram-Gruppen in der besetzten Region Saporischschja wurde er dafür gefeiert, Ukrainer öffentlich bloßgestellt, gefoltert und deportiert zu haben.

Als Zwangsarbeiter für die russische Armee wurden Olena, Kostja und Kolja Teil einer 18-köpfigen Gruppe. Sie wurden in heruntergekommenen Baracken untergebracht, schliefen zwischen Ratten und Mäusen, berichtet Olena. Zwei andere aber seien gezwungen worden, während des kalten ukrainischen Frühjahrs 2023 bei Minusgraden in einem Erdloch zu verharren. Bis sie anfingen, Blut zu husten.

„Dann verschwanden sie. Wahrscheinlich erschossen die Wärter sie aus Angst, sie hätten Tuberkulose“, sagt Olena.

Doch dabei blieb es nicht: „Wir wurden auch als ,Sexsklavinnen’ gehalten“, sagt Olena. „Der Offizier war 30 Jahre alt und hieß auch Roman. Wie der Mann, der mich zuvor verkauft hatte. Er sagte: ‚Du wirst jetzt hier mit mir leben‘, und erwartete Dankbarkeit, weil ich bei ihm besseres Essen bekommen würde.“

Einfache Soldaten durften die Gefangenen nicht missbrauchen, sagt Olena, dies sei nur ein Privileg für Offiziere gewesen, das sie mit Erschießungsandrohungen durchzusetzen wussten. Ihren Peiniger hat sie auch bei der Polizei gemeldet, die Ermittlungen laufen.

Teile von Olenas Erzählung decken sich mit dem Geständnis von Jewhen Balyzkyj, einem ehemaligen ukrainischen Parlamentsabgeordneten, der zu den Angreifern überlief und von diesen zum Verwalter der besetzten Gebiete in der Region Saporischschja ernannt wurde.

Vor laufenden Kameras erklärte er, pro-ukrainisch eingestellte Menschen in die freie Ukraine zwangsumgesiedelt zu haben. Auch „eine große Anzahl von Familien“. Zugleich gestand er öffentlich, einige Menschen zu Zwangsarbeit gezwungen zu haben, um das russische Vaterland zu unterstützen.

Was der russische Besatzungsverwalter Balyzkyj als Zwangsarbeit bezeichnet, nennen Olena und Iwan Fedorow – der rechtmäßige ukrainische Leiter der Gebietsverwaltung Saporischschja – schlicht „Sklaverei“. Offiziell gilt Olena in der Ukraine als Opfer von Menschenhandel.


Flucht in die Freiheit

Drei Monate in „Untersuchungshaft“ und zwei weitere als Zwangsarbeiterin zu überleben, begreift Olena als großes Glück. Doch dass sie heute frei ist und sprechen kann, verdankt sie vor allem einer Reihe großer Zufälle.

Der erste war, dass ein Mitgefangener einen Wachposten überreden konnte, ihm dessen Handy für einen Familienanruf auszuleihen. Er rief seine Angehörigen an, schilderte seine Lage – und löste damit eine Kettenreaktion aus, sagt Olena. Familien der Gefangenen vernetzten sich und riefen unablässig in Moskau an. Dass ihre Verwandten Zwangsarbeiter waren, entsprach nämlich nicht der medialen Erzählung, sie seien von Roman Wnukov – „Batman“ – in die freie Ukraine entlassen worden.

Schließlich bekamen die Verschleppten Besuch von drei Männern aus Moskau. Um den Protest der anrufenden Familien zu besänftigen, sagt Olena. „Sie sagten uns plötzlich, wir dürften nach Hause“, erinnert sich Olena an den 16. März 2023.

Den letzten Wunsch der Moskauer hat sie nie vergessen: „Wir möchten Sie freundlichst bitten, wenn Sie wieder zu Hause sind, niemandem von dem zu berichten, was Sie in den vergangenen Monaten erlebt haben.“

Ich habe alles richtig gemacht. Alles andere wäre Selbstmord gewesen.

Olena Yahupova über ihre Entscheidung, den Moskauer Beamten nicht zu vertrauen und aus ihrer Heimat zu fliehen

Doch Freiheit fühlt sich anders an. Olena war zwar weder eingesperrt noch versklavt, aber weiterhin im russisch besetzten Gebiet. Was, wenn sie mich wieder abholen? Wer solche Verbrechen überlebt hat, wird der dann nicht erst recht beseitigt? Bin ich wirklich sicher? Mit diesen Fragen im Kopf verzichtete sie darauf, in ihr altes Zuhause zurückzukehren.

Stattdessen tauchte sie unter – in einem Keller an einem dem Tagesspiegel bekannten Ort, bei Menschen, die bis heute unter Besatzung leben. Von dort aus kontaktierte sie ihre Familie und plante ihre Flucht in die freie Ukraine.

Kurz darauf begann ihre Reise: über das besetzte Melitopol und Nowoasowsk, dann weiter durch russisches Staatsgebiet. Mit einem ukrainischen Pass und dem Risiko, als ehemalige Gefangene in russischen Datenbanken aufzutauchen, setzte sie alles auf Hoffnung.

Am meisten betete sie an der russisch-estnischen Grenze – dem letzten Ort, an dem sie dem russischen System ausgeliefert war. Doch sie hatte das Glück auf ihrer Seite, „vielleicht sogar Gott“, sagt sie. Die Grenzbeamten belog sie. Sie erzählte ihnen von einer wichtigen Operation in Polen und versprach, schnellstmöglich nach Russland „heimzukehren“.

Von Estland aus fuhr sie über Lettland, Litauen und Polen zurück in die freie Ukraine – bis nach Saporischschja, unweit der Front, an der sie noch zwei Wochen zuvor Zwangsarbeit verrichten musste.

Ob sie ihre Entscheidung bereue? Schließlich hat sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Nein, sagt sie: „Ich habe alles richtig gemacht. Alles andere wäre Selbstmord gewesen. Von uns 18 Leuten haben sieben diese Route in die Freiheit gewagt.“ Von den anderen hat sie seither nichts gehört.

„Ich hoffe, sie leben noch.“


Nach dem Leid

Olenas erste Handlung in Freiheit war, die Täter in der freien Ukraine anzuzeigen und die Beweise zu erbringen, die letztlich zur Anerkennung ihres Leids führten. Heute gilt sie in der Ukraine als Opfer von konfliktbedingter sexualisierter Gewalt und Menschenhandel.

Erst danach holte sie nach, was sie sich schon lange gewünscht hatte. Sie ließ sich mit ihrem Ehemann kirchlich trauen.

Olena Yahupova und ihr Mann Artur.

© privat

Zur Therapie geht Olena auch zweieinhalb Jahre nach ihrer Flucht nicht. Stattdessen ordnet sie alles, was sie ihrem Ziel der Gerechtigkeit näherbringt, in etlichen Aktenordnern. Sie sammelt Videos und Informationen zu möglichen Tätern, bündelt all die Gutachten, die über ihren körperlichen und geistigen Zustand angefertigt wurden, vernetzt sich mit weiteren Überlebenden und Menschen, die ihre Angehörigen vermissen.

Sie braucht die Gewissheit, dass ihr Leiden nicht umsonst war, ihre Zeugenaussagen etwas bewirken können und sie die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen der Ukraine gegen russische Kriegsverbrecher unterstützt.

Noch immer glaubt Olena an eine gerechte Zukunft. Eine, in der neue Nürnberger Prozesse für russische Kriegsverbrecher abgehalten werden. Eine, in der nicht nur der russische Präsident, Wladimir Putin, international als Kriegsverbrecher geächtet wird, sondern alle Menschen, die seine Kriegsmaschinerie ermöglichen. Eine Zukunft, in der Russland es nicht schafft, eine Amnestie für alle Täter durchzusetzen.

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