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15. März 2024, Kiew, Ukraine: Auszubildende laufen in einer Übung, die eine Evakuierungsmission im Schützengraben simuliert und von der dritten separaten Sturmbrigade in der Region Kiew organisiert wurde.

© IMAGO/ZUMA Wire

„Die meisten machen sich nach der Ausbildung aus dem Staub“: Warum fliehen derzeit so viele ukrainische Soldaten aus der Armee?

Zunehmende Ausreisen junger Ukrainer machten zuletzt Schlagzeilen. Doch das Problem der Desertionen ist größer – offenbar sogar im Vergleich zu Russland. Ein Blick auf Zahlen und Ursachen.

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Junge ukrainische Männer verlassen in Scharen ihr Land. Das ist nachvollziehbar, denn ab 25 Jahren kann man in der Ukraine zum Kriegsdienst verpflichtet werden. Wer eingezogen wird, muss schlimmstenfalls mit Tod oder Verwundung rechnen; in jedem Fall aber wird der Krieg an Körper und Seele seine Spuren hinterlassen.

Dieser Tage mag der lebensgefährliche Fronteinsatz in den Augen vieler Männer sogar noch sinnloser wirken, da ein durch Russland und die USA aufgezwungener Waffenstillstand droht.

Doch für die ukrainische Armee mit ihren etwa 200.000 entlang der Kampflinie eingesetzten Soldaten ist jede Flucht ein Problem. Zumal sich eben nicht nur die Jungen – mitunter Jahre vor einer etwaigen Einberufung – dem Militärdienst entziehen. Die Gründe sind außerdem komplexer, Todesgefahr allein erklärt das Problem nicht. Doch der Reihe nach.

Der größte Teil der Deserteure macht sich nach der Ausbildung und vor der Eingliederung in einen Frontverband aus dem Staub. Wenn die Ukraine hier nicht nachbessert, gehen ihr bald die Soldaten aus, egal wie aggressiv sie rekrutiert“, sagte Militärexperte Gustav Gressel dem Tagesspiegel.

Der Korruptionsskandal hat die Vertrauenslage freilich nicht besser gemacht“, fügte er hinzu. Seinen Zahlen nach gab es im Oktober und November noch mal einen starken Anstieg der unerlaubten Abwesenheiten.

Insgesamt haben sich seit Januar 2022 ungefähr 150.000 ukrainische Soldaten unerlaubt von ihrer Truppe entfernt, schätzt die ukrainische OSINT-Gruppe „Frontelligence Insight“ in einer Ende November veröffentlichten, umfangreichen Analyse des Problems.

Die Zahl der Deserteure wirkt hoch, auch wenn man berücksichtigt, dass sich manche der Soldaten gar nicht wirklich dem Kriegsdienst entziehen. Sie wechseln nur aus Unzufriedenheit ihre Einheit und fließen trotzdem in die Statistik ein, weil das auf inoffiziellem Weg passiert, statt mit Genehmigung ihrer Vorgesetzten.

Auffällig ist, dass Veteranen nicht die größte Gruppe unter den Deserteuren ausmachen. Einheiten wie das 3. Armeekorps seien „in sehr aktiven Frontgebieten im Einsatz“ und hätten trotzdem niedrige Desertionsraten. Die Kampfintensität sei daher nicht allein ausschlaggebend für das Verlassen der Truppe, schreibt „Frontelligence Insight“.


Warum desertieren so viele frisch ausgebildete Soldaten?

Vielmehr seien es die frisch rekrutierten Soldaten im Training oder in der direkt anschließenden Zeit vor der Verlegung an die Front, die die höchsten Desertions-Raten aufweisen würden. Dieses fehlende Personal verursache nur selten unmittelbare Probleme an der Front, „schwächen aber allmählich die Verteidigung“, weil der Nachschub sinke.

„Frontelligence Insight“ nennt fünf Gründe für die vielen Desertionen unter den Nachwuchs-Soldaten. Sie haben auch mit den diplomatischen Bemühungen auf höchster Ebene zu tun – und mit schlechter militärischer Führung.

  • Angst vor der Verlegung in Regionen mit hohen Verlusten.
  • Niedriges Vertrauen in Ausbildungssysteme und die Sorge, dass zivile Fähigkeiten ignoriert werden.
  • Mangel an Motivation oder fehlender Glaube an einen positiven Ausgang des Kriegs, kombiniert mit Frustration gegenüber militärischer oder politischer Führung.
  • Eine als ungerecht empfundene Mobilisierung, die überproportional viele arme Menschen treffe.
  • Unrechtmäßige Mobilisierungen, bei denen etwa Menschen mit Behinderungen eingezogen wurden, selbst wenn entsprechende Dokumente vorgelegt werden.

Die OSINT-Gruppe geht von einer Desertionsrate von elf bis 14 Prozent der Truppenstärke aus. In der russischen Armee liege sie dagegen zwischen sieben und zehn Prozent. Für die Ukraine sei das Problem auch deswegen größer, weil Russland auf mehr potenzielle Rekruten zurückgreifen könne.

Kiew drohe „ein möglicher Zusammenbruch der Frontverteidigung“. Klar ist: Während die Ukraine bei Geld und Waffen auf ausländische Hilfe setzen kann, ist sie bei den Soldaten auf sich allein gestellt. Russland dürfte das wissen.

Das Problem scheint inzwischen ganz oben in der ukrainischen Politik angekommen zu sein. Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj kündigte eine Verbesserung der militärischen Ausbildung an.

Unter anderem sollen das Basistraining auf 51 Tage verlängert, die Auswahl der Ausbilder verbessert und frisch ausgebildete Soldaten psychologisch betreut werden, berichtet „The Kiev Independent“. (mit dpa)

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