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Trauernde in Kiew

© picture alliance / AA/Narciso Contreras

„Die Stadt ist weiter im Schmerz“: Butscha leidet auch ein Jahr nach dem russischen Massaker

Massengräber, Tote auf den Straßen, zerstörte Gebäude – vor einem Jahr wurde der Ort Butscha zum Symbol des Grauens im Ukrainekrieg. Wie geht es den Menschen heute?

Die Hand von Mykhailyna Skoryk-Shakarivska zittert ein wenig, als sie auf ihrem Handy den kurzen Videoausschnitt zeigt, der vor knapp einem Jahr um die Welt ging. Acht Männer mit verbundenen Augen werden in einer Reihe von zwei Soldaten mit Maschinengewehren über eine Straße getrieben.

Die Männer laufen gebückt, eine Hand am Kopf, die andere am Vordermann. „Beweg dich, du Hund“, ruft einer der Soldaten auf Russisch, dann überqueren sie die Straße und gelangen auf einen Vorplatz. Das Video endet.

Genau dort steht Skoryk-Shakarivska nun mit ernster Miene und zittriger Hand. Der Wind pfeift, es ist stechend kalt. Ein paar Autos stehen im Hof, auf den Stufen zu dem grauen Plattenbau mit weißen Vorhängen haben sich rund 40 Menschen mit Blumen versammelt. Ein Priester hält eine kurze Rede, ein paar Zuhörer halten sich an den Händen, es fließen Tränen.

Mykhailyna Skoryk-Shakarivska zeigt das Video aus Butscha, das um die Welt ging.
Mykhailyna Skoryk-Shakarivska zeigt das Video aus Butscha, das um die Welt ging.

© Felix Hackenbruch

Genau ein Jahr ist es her, dass die acht Männer mit verbundenen Augen auf diesem Hof in Butscha erschossen wurden. Sie alle, so finden Reporter der „New York Times“ später heraus, waren Zivilisten. Ehemänner, Väter, einfache Arbeiter. Ihre Leichen lassen die russischen Soldaten liegen. Erst als die ukrainische Armee den Kiewer Vorort einen Monat später befreit, werden sie geborgen und beerdigt.

Butscha als Symbol des Grauens

Die Toten auf den Straßen und in Massengräbern sowie die Verwüstung ganzer Straßenzüge machen Butscha zum Symbol des Grauens und der russischen Gewalt gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.

„Unser Leben wird nie wieder wie früher sein“, sagt Skoryk-Shakarivska. Die stellvertretende Bürgermeisterin von Butscha erzählt, wie die Kleinstadt früher eine grüne Oase vor der Toren Kiews gewesen sei. Viele junge Familien zogen in den Speckgürtel der Hauptstadt, entflohen der Hektik. Die Stadt wuchs schnell an.

Doch dann beginnt Russland seine Invasion und dringt von Norden schnell bis vor die Stadtgrenze Kiews. Bereits zehn Tage nach Kriegsbeginn erreichen russische Soldaten Butscha – und gehen gnadenlos und brutal vor. Frauen werden vergewaltigt, Passanten wahllos erschossen, auch Kinder finden sich später in den Massengräbern an der St.-Andreas-Kirche.

Insgesamt werden später 419 Tote gefunden, die Spuren davon trugen, dass die Opfer erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren. Skoryk-Shakarivska kann sich in letzter Minute retten. Am Vormittag des 3. März habe sie noch im Rathaus gearbeitet, dann habe sie den Bürgermeister gebeten, fliehen zu dürfen.

Unser Leben wird nie wieder wie früher sein.

Mykhailyna Skoryk-Shakarivska, stellvertretende Bürgermeisterin von Butscha

„Ich war in meinem Leben umtriebig“, sagt sie ausweichend. Sie habe auf einer russischen Todesliste gestanden. Am Nachmittag nehmen die Russen das Rathaus von Butscha ein, Skoryk-Shakarivska entkommt knapp. Der Bürgermeister bleibt und überlebt nur, weil ihn die russischen Soldaten nicht erkennen.

Ein Jahr später

Ein Jahr später versuchen die beiden mit ihrer Stadtverwaltung und großer Energie die Spuren dieser Zeit zu beseitigen. Die ausgebrannten Fahrzeuge, Trümmer und Autoreifen sind auf einem alten Parkplatz zu einem Schrottberg aufgeschüttet worden.

Die Brücke, die ukrainische Truppen bei ihrem Rückzug gesprengt hatten, wird mit mehreren Kränen und Baggern wiederaufgebaut. „Wir haben bereits mehr als 800 Häuser repariert“, sagt Skoryk-Shakarivska. Es klingt viel, doch insgesamt wurden mehr als 3000 Häuser beschädigt und zerstört.

Wir haben bereits mehr als 800 Häuser repariert.

Mykhailyna Skoryk-Shakarivska

Nicht nur in Butscha sind die Zerstörungen ein Jahr nach der russischen Besetzung noch allgegenwärtig. Ein paar Kilometer weiter nördlich, im Dorf Kozarovychi, sind viele Hausfaden noch vom Artilleriebeschuss gezeichnet, zerbrochene Fensterscheiben werden mit Klebeband und Folie zusammengehalten.

3000
Häuser und mehr wurden beschädigt und zerstört.

Auf einer Baustelle im Ortskern wuseln 20 Menschen mit gelben und orangen Westen. Vor einem Jahr hat eine russische Rakete das Haus getroffen und zerstört. Nun wird es von freiwilligen Helfern endgültig abgerissen. Wände werden zum Einsturz gebracht, Rohre aus ihrer Verankerung gerissen, Ziegelsteine mit einer Schubkarre abtransportiert.

Die Besitzerin, eine kleine, alte Frau mit Mantel und schwarzer Mütze, schaut traurig zu. „Es ist für mich schwer, hierhin zurückzukehren.“ Seit 1982 habe sie in dem Haus gelebt, das ihre Schwiegereltern gebaut haben. Den Raketenbeschuss überlebte sie nur, weil sie kurz vorher geflohen war. Sie habe eine Vorahnung gehabt, sagt sie.

Jeder muss jetzt etwas tun. Ich liebe dieses Land, es ist meine Heimat.

Issa Sadio Diallo, Einwohner in Kiew

Ihr Nachbar hatte weniger Glück, er starb bei dem Einschlag. „Das hätte auch ich sein können“, sagt die Besitzerin. Nun lebt sie bei ihrer Tochter und den Enkeln in Kiew.  Wie es weitergeht, weiß sie noch nicht. „Natürlich will ich wieder bauen – wenn ich die Kraft dazu finde.“

Freiwilliges Engagement beim Wiederaufbau

Doch es fehlt auch an Baumaterial in der Ukraine. Die Kosten für Holz, Zement und Glas sind explodiert. Von den zugesagten Millionen, die von den EU-Staaten versprochen wurden, ist in Kozarovychi noch nichts angekommen. Nur mit der Hilfe zahlreicher Freiwilliger kommt der Wiederaufbau überhaupt voran. Es ist eine bunte Mischung an Menschen, die an diesem Samstagmorgen gemeinsam mit anpackt.

Issa Sadio Diallo hilft jedes Wochenende. „Jeder muss jetzt etwas tun. Ich liebe dieses Land, es ist meine Heimat“, sagt Sadio, der gebürtig aus Guinea-Bissau stammt, aber seit 30 Jahren als Unternehmer in Kiew lebt. Für ihn ist das Engagement eine Selbstverständlichkeit. „Es ist keine Hilfe, ich helfe mir selbst“, sagt er mit einem Lächeln, dann packt er seine Schaufel.

Issa Sadio Diallo (l.) in der Ruine eines ukrainischen Hauses.
Issa Sadio Diallo (l.) in der Ruine eines ukrainischen Hauses.

© Felix Hackenbruch

Doch die Erinnerungen und der Kummer lassen sich nicht so einfach wegräumen. Zurück in Butscha, wo die Bilder des Schreckens in der St.-Andreas-Kirche ausgestellt sind. Leichname, die mit gefesselten Händen auf der Straße liegen. Aschfahle tote Arme, die aus Massengräbern herausragen. Ein Mann, der beim Wasserholen von seinem Rad heruntergeschossen wurde und neben dem sein Hund trauert. Die roten Fingernägel einer toten Frau im Dreck.

„Die Stadt ist weiter im Schmerz“, sagt Mykhailyna Skoryk-Shakarivska. Es gebe noch immer Vermisste, auch aus Butscha sollen Menschen nach Russland verschleppt worden sein. Das Dorf sei enger zusammengerückt, berichtet die stellvertretende Bürgermeisterin.

Es gebe Gesprächskreise, in denen gemeinsam getrauert und Schicksale geteilt würden. 17 Psychologen habe die Gemeinde bereitgestellt und die Hilfe solle noch ausgebaut werden.

80
Prozent der Bevölkerung von Butscha sind zurück in der Stadt

Man müsse lernen, mit der Geschichte zu leben, sagt Skoryk-Shakarivska. „Niemand will an einem Ort der Tragödie leben. Deswegen wollen wir hier auch eine Erzählung des ukrainischen Erfolgs verbreiten“, sagt sie optimistisch. Die einst grüne Oase vor Kiew soll noch schöner als früher werden.

Niemand will an einem Ort der Tragödie leben. Deswegen wollen wir hier auch eine Erzählung des ukrainischen Erfolgs verbreiten.

Mykhailyna Skoryk-Shakarivska

Die Stadtverwaltung hat inzwischen ein Programm gestartet, um die geflohenen Einwohner Butschas zu einer Rückkehr zu bewegen. Rund 80 Prozent der knapp 40.000 Bewohner seien zurück, doch vor allem junge Familien und Kinder würden noch fehlen, teils weit weg im Ausland leben. Auch Unternehmen seien verschwunden, Steuereinnahmen eingebrochen.

„Wir brauchen Anreize, um die Menschen zurückzuholen“, sagt Skoryk-Shakarivska. Neue Schulen und Kindergärten mit Bunkern sollen entstehen, auch Spielplätze und Orte für junge Menschen sollen gebaut werden. Sie steht nun auf der Jablunska-Straße, die traurige Berühmtheit erlangt hat, weil hier tagelang zahlreiche Leichen herumlagen. „Jeder, der auf die Straße ging, wurde erschossen“, sagt die Bürgermeisterin.

An die Gräuel erinnert fast nichts mehr. Die Wracks sind weggeschleppt, die Fassenden neu verputzt, an den frisch gestrichenen Holzzaun hat jemand einen gelben Tulpenstrauß gelegt. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, sagt Mykhailyna Skoryk-Shakarivska, „aber wir werden ihn gehen.“

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