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Hunderttausende demonstrieren gegen die Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister.

© IMAGO/Mikhail Voskresenskiy

Die Türkei im Ausnahmezustand: Der große Aufstand gegen Erdogan

Es sind Proteste, wie sie die Türkei lange nicht gesehen hat. Hunderttausende leisten Widerstand gegen die Regierung. Experten analysieren, wie gefährlich die Demonstrationen für Erdogan sind.

Stand:

Im Café „Sima“ im Istanbuler Stadtteil Beyoglu geben sich am Sonntag die Gäste die Klinke in die Hand, um Widerstand gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan zu leisten.

„Sie wollen, dass wir alle zu Hause bleiben und uns nicht wehren“, sagt die 38-jährige Lektorin Sirin über die Regierung. „Aber wir versuchen, die Hoffnung zu bewahren.“

Das „Sima“ ist an diesem Tag eines von Tausenden inoffiziellen Wahllokalen in der Türkei. Die Oppositionspartei CHP will den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu per Urwahl zum Präsidentschaftskandidaten und Herausforderer von Erdogan küren.

CHP-Mitglieder und auch Anhänger anderer Parteien dürfen mitstimmen. Imamoglus Sieg steht am Sonntag bereits fest; die hohe Beteiligung an der Abstimmung deutet an, dass viele Türken das Votum als Gelegenheit nutzen, um Erdogan einen Denkzettel zu verpassen. Bis zum Nachmittag geben nach CHP-Angaben mehrere Millionen Türken ihre Stimme ab.

Viele Türkinnen und Türken lassen sich nicht davon abhalten, ihre Stimme für die Kür Imamoglus als Präsidentschaftskandidat abzugeben.

© AFP/YASIN AKGUL

Es ist eine Wahl im Ausnahmezustand, mitten in den schwersten Protesten in der Türkei seit den Gezi-Unruhen vor zwölf Jahren.

Noch während die Oppositionsanhänger am Sonntag ihre Stimmen abgeben, schickt ein Richter Imamoglu wegen Korruption in Untersuchungshaft. Das Innenministerium enthebt den Bürgermeister seines Amtes und bringt ihn ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri außerhalb von Istanbul. Die CHP-Mehrheit im Istanbuler Stadtrat wird jetzt einen anderen Politiker zum amtierenden Bürgermeister wählen. 

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Million Menschen sollen sich nach Oppositionsangaben am Samstagabend zu Protesten versammelt haben.

Sirin macht seit Imamoglus Festnahme am vorigen Mittwoch jeden Abend am Istanbuler Rathaus bei Protestkundgebungen mit. Die Teilnehmerzahl wächst mit jedem Tag, am Samstagabend versammelten sich nach CHP-Angaben eine Million Menschen.

Ekrem Imamoglu gilt als Erdogans gefährlichster Kontrahent.

© dpa/Oliver Berg

Erdogan sieht in Imamoglu seinen gefährlichsten Konkurrenten um das Präsidentenamt. Justizminister Yilmaz wies zwar den Vorwurf zurück, der Haftbefehl gegen Imamoglu sei politisch motiviert.

Doch nicht einmal Erdogans Berater glaubten an die offizielle Darstellung, wonach unabhängige Richter und Staatsanwälte gegen Imamoglu ermitteln, sagt Selim Koru, Türkei-Experte der US-Denkfabrik FPRI und Autor des Blogs „Kültürkampf“.

Die Regierung habe eine klare Botschaft an die Opposition, sagt Koru dem Tagesspiegel: „Ihr könnt Dampf ablassen, aber ihr könnt Erdogan nicht ernsthaft gefährlich werden. Wenn ihr es doch versucht, sperren wir euch ein und werfen den Schlüssel weg.“

Nicht einmal Erdogans Berater glauben an die offizielle Darstellung, wonach unabhängige Richter und Staatsanwälte gegen Imamoglu ermitteln.

Selim Koru, Türkei-Experte der US-Denkfabrik FPRI 

Auf ähnliche Weise entledigte sich Erdogan vor fast neun Jahren des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas, der die Opposition stärkte und Erdogans Wiederwahl gefährdete. Demirtas sitzt bis heute im Gefängnis, obwohl das Europäische Menschenrechtsgericht seine Freilassung verlangt.

Erdogan will Imamoglus Aufstieg beenden

Imamoglu ist für Erdogan noch gefährlicher als Demirtas. Der Bürgermeister hatte bisher eine sichere Machtbasis in der 16-Millionen-Stadt Istanbul, führte in allen Umfragen und wollte sich bei der CHP-Urwahl am Sonntag ein landesweites Mandat holen, um Erdogan bei der nächsten Wahl 2028 herauszufordern. Deshalb will der Präsident Imamoglus Karriere beenden.

Ärger nimmt Erdogan dabei in Kauf. Hunderttausende sind auf den Straßen, die Börse und die Lira stürzen ab. Die Behörden sperren die Zufahrtsstraßen nach Istanbul, um weiteren Zulauf für die Demonstranten zu verhindern, nehmen Hunderte Protestierende fest und verbieten alle Kundgebungen für eine Woche.

Zehntausende Polizisten mit Tränengas und Wasserwerfern sind rund um die Uhr im Einsatz. Die Rundfunkaufsichtsbehörde droht allen Fernsehsendern mit Lizenzentzug, wenn sie die Oppositionsveranstaltungen übertragen.

Das ist die gefährlichste Bedrohung für Erdogans Macht seit dem Putschversuch von 2016.

Howard Eissenstat, Türkei-Experte an der US-amerikanischen St.-Lawrence-Universität.

„Das sind die größten Proteste seit den Gezi-Unruhen von 2013, und das ist die gefährlichste Bedrohung für Erdogans Macht seit dem Putschversuch von 2016“, sagt Howard Eissenstat, Türkei-Experte an der St-Lawrence-Universität in den USA und am Institut für Türkei-Studien der Universität Stockholm.

Dennoch sei die Lage für Erdogan noch beherrschbar, sagte Eissenstat dem Tagesspiegel. Die türkische Opposition sei nicht geeint und das außenpolitische Umfeld mit Donald Trump im Weißen Haus und der sicherheitspolitischen Verunsicherung Europas günstig für den Präsidenten.

Erdogan nennte die Proteste „Straßenterror“.

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Allerdings läuft für Erdogan nicht alles nach Plan. Bei früheren Krisen wollte die CHP als größte Oppositionspartei keine Straßenproteste, weil sie den Vorwurf vermeiden wollte, das Land zu destabilisieren.

Diesmal rief der CHP-Chef Özgür Özel die Menschen sofort zu Protesten auf – und die Türken folgten seinem Ruf. Inzwischen gibt es Demonstrationszüge von Edirne im Nordwesten der Türkei bis nach Diyarbakir im Südosten.

Imamoglu ruft die Türken nach seiner Verhaftung über die sozialen Medien auf, weiter für ihn auf die Straße zu gehen: Der Haftbefehl gegen ihn sei „ein großer Verrat an der Türkei“. Auch hinter Gittern bleibt er für Erdogan gefährlich.

„Es geht um die Macht“

Überraschend verzichtete die Justiz am Sonntag auf einen zusätzlichen Haftbefehl gegen Imamoglu wegen des Vorwurfs der Zusammenarbeit mit der Terrorgruppe PKK.

Dieser Schritt hätte vermutlich die sofortige Absetzung des Bürgermeisters und die Ernennung eines Ankara-treuen Zwangsverwalters für Istanbul nach sich gezogen, was die Wut der Regierungsgegner noch mehr angefacht hätte.

Möglicherweise will Erdogans Regierung diesen Schlag gegen Imamoglu zumindest vorerst nicht führen, um die Lage nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen.

Von seinem Ziel, Imamoglu kaltzustellen, wird Erdogan aber nicht lassen. Das glaubt auch Türkei-Experte Koru: „Es geht hier um die Macht.“

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