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4. November 2025, Pokrowsk: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (rechts) und der Befehlshaber der Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyi (links), hören sich einen Bericht über Verteidigungsoperationen an.

© IMAGO/ZUMA Press Wire

„Die ukrainischen Streitkräfte nehmen zahlenmäßig ab“: Die Schlacht um Pokrowsk offenbart Kiews große Schwäche

Russland wirft im Osten der Ukraine massenweise Soldaten für die Eroberung einer Frontstadt in die Schlacht. Der Nachschub scheint für die Angreifer kein Problem zu sein – ganz im Gegenteil zu den Verteidigern.

Stand:

Wenn es bei der russischen Invasion in der Ukraine vor allem um Geländegewinne ginge, wäre Moskaus Bilanz schlecht: Laut Zahlen aus dem Spätsommer kontrollierte Russland nur ungefähr ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes – und das trotz eines Eroberungskriegs, der mehr als dreieinhalb Jahre andauert und mit den Ressourcen des rohstoffreichen, flächenmäßig größten Lands der Welt geführt wird.

So gesehen würde auch die Einnahme der relativ kleinen Industriestadt Pokrowsk und des benachbarten Myrnohrad, die Russland unter hohen eigenen Verlusten versucht, wenig an der Bilanz ändern. Auf der Habenseite stünden jedoch taktische Vorteile für einen weiteren Vormarsch, ein Propaganda-Erfolg für den russischen Machthaber Wladimir Putin – und eine weitere Schwächung der ukrainischen Armee, die unter Nachschubmangel leidet.

Denn es mehren sich die Berichte von ukrainischen Soldaten vor Ort in Pokrowsk, die auf den Mangel an Personal hinweisen. „Es würde wahrscheinlich eine hohe Zahl an Leuten brauchen, eine Stadt dieser Größe zu befreien“, sagte ein Soldat im Gespräch mit der „Financial Times“. „Und ich glaube einfach nicht, dass es momentan welche gibt“.

Im Durchschnitt würde jeder Kilometer der gesamten Front von nur vier bis sieben ukrainischen Infanteristen bewacht, behauptete die ukrainische Aktivistin und Soldatin Maria Berlinska.

Wachsende Zahl an Desertationen

Ein Problem für die ukrainische Truppe scheint die wachsende Zahl an Desertationen zu sein. Mehr als 21.000 Soldaten sollen sich allein im Oktober von ihren Truppen entfernt haben, berichtete der ukrainische Veteran und ehemalige Abgeordnete Ihor Lutsenko unter Verweis auf eine offizielle Statistik. Die Zahl ist demnach so hoch wie noch nie seit Kriegsbeginn.

Teilweise dürften die Männer zu anderen Einheiten gewechselt sein – und teilweise eben aus dem Krieg geflüchtet. „Das Ergebnis ist, dass die Landstreitkräfte nicht expandieren, sondern zahlenmäßig abnehmen“, kommentierte der Chef der auf Kriege spezialisierten Analysefirma Rochan Consulting in der „Financial Times“ die Zahl. Die Dichte der ukrainischen Armee sei inzwischen so gering, dass Teile der Front faktisch nur durch Drohnen bewacht würden.

Probleme beim Nachschub

Ausgedünnte Einheiten, abgekämpfte Soldaten: Auch andere westliche Militärbeobachter weisen seit Jahren – und damit nicht nur in Zusammenhang mit Pokrowsk – auf dieses Problem hin. Wobei die schwache Personaldecke eben nicht nur mit Desertationen zusammenhängt, sondern auch damit, dass nicht genug Männer rekrutiert werden.

Gerade aus dem westlichen Ausland kamen in diesem Zusammenhang Forderungen, dass die Ukraine das auf 25 Jahre herabgesenkte Einberufungsalter weiter verringern soll. Stattdessen wurde jüngst beschlossen, 18- bis 22-Jährigen die Ausreise zu erlauben, was zu einer steigenden Zahl männlicher Flüchtlinge geführt hat.

Während die Ukraine mit der moralisch-politischen Frage konfrontiert ist, in welchem Alter Menschen zum Kriegsdienst verpflichtet werden sollen, lockt Russland weiterhin insbesondere Personen aus sozial schwachen Regionen mit der Aussicht auf eine gute Bezahlung in den Krieg. Unter den zahlenmäßig weit überlegenen Angreifern sind teilweise offenbar auch Menschen mit Behinderung.

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