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Erdogan spricht über die Protestierenden als „Straßen-Terroristen“.

© REUTERS/MURAD SEZER

„Er bedient sich der Täter-Opfer-Umkehr“: Wieso Erdogan die Opposition zur Terrororganisation erklärt

Der Präsident beschimpft Protestierende als gewalttätige Bewegung. Damit will Erdogan aus der Defensive kommen, in die er sich mit Imamoglus Verhaftung gebracht hat.

Stand:

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan greift eine Woche nach der Festnahme seines Herausforderers Ekrem Imamoglu zum bewährten Mittel der Polarisierung, um angesichts von Massenprotesten im ganzen Land aus der Defensive zu kommen.

Erdogan erklärte die Opposition zu einer Terrorbewegung, die der Türkei schaden wolle. Die Demonstranten seien „Straßen-Terroristen“, die mit Äxten, Säure und Molotow-Cocktails auf die Sicherheitskräfte losgingen.

Die Opposition will ihre abendlichen Großkundgebungen in Istanbul beenden, zu anderen Protestformen übergehen und Erdogan eine „Überraschung“ bereiten.

Erdogan gibt der Opposition Schuld an wirtschaftlichem Schaden

Der türkische Präsident sagte, die Oppositionspartei CHP habe mit ihrem Aufruf zu Straßenprotesten gegen Imamoglus Inhaftierung eine „gewalttätige Bewegung“ geschaffen. Polizisten würden angegriffen, Fenster von Geschäften eingeschlagen und Moscheen geschändet.

Außerdem habe die CHP mit den Massenprotesten grundlos wirtschaftliche Turbulenzen ausgelöst, sagte Erdogan. Nach Imamoglus Festnahme am 19. März waren die Börsenkurse und der Wert der Lira gegenüber Euro und Dollar stark gefallen, weil Investoren wegen der politischen Spannungen verunsichert waren.

Erdogan hatte Imamoglu inhaftieren lassen, um eine Präsidentschaftskandidatur des landesweit beliebten Istanbuler Bürgermeisters zu verhindern.

Hunderttausende Menschen nahmen am Montagabend an der sechsten Protestveranstaltung in Folge vor dem Istanbuler Rathaus teil. CHP-Chef Özgür Özel rief die Demonstranten auf, in ihrem Widerstand nicht nachzulassen und Waren von regierungsnahen Konzernen zu boykottieren.

Das gelte auch für staatliche Medien, die „Feindschaft“ gegen die Opposition verbreiteten. Der Oppositionsführer warf Erdogan vor, ein islamistisches System einführen zu wollen. Seine Partei dagegen stehe zum Laizismus „als Garantie, dass die Türkei nicht zu einem Syrien, einem Afghanistan oder einem Iran wird“.

Vor einer Woche wurde Ekrem Imamoglu festgenommen. Inzwischen wurde er als Bürgermeister abgesetzt.

© AFP/YASIN AKGUL

Die Polizei nahm nach Angaben von Innenminister Ali Yerlikaya vor dem Rathaus 43 Demonstranten fest, die Erdogan und seine verstorbene Mutter in Sprechchören obszön beleidigt haben sollen. Führende Politiker von Erdogans Regierungspartei AKP sagten: Der Vorfall zeige, dass die Proteste aus dem Ruder liefen.

Erdogan bedient sich seit Jahren erfolgreich der Täter-Opfer-Umkehr.

Hüseyin Cicek, Türkei-Experte

Nach Berichten regierungsnaher Medien sollen Demonstranten auf dem Gelände einer historischen Moschee in der Nähe des Rathauses Bier getrunken, ihre Notdurft verrichtet und Grabsteine umgeworfen haben.

Mit den Vorwürfen gegen die Opposition will die Regierung den Anlass für die Proteste – die politisch motivierte Verhaftung von Imamoglu – in den Hintergrund rücken. „Erdogan bedient sich seit Jahren erfolgreich der Täter-Opfer-Umkehr“, sagt Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien und an der Sigmund-Freud-Universität in der österreichischen Hauptstadt.

Die Repression gegen Oppositionelle werde umgedeutet und erscheine „als notwendige Verteidigung gegen angebliche Verschwörungen oder ausländische Einflussnahme. Die jüngste Verhaftungswelle reiht sich nahtlos in dieses Narrativ ein“, sagt Cicek dem Tagesspiegel.

Bei den Protesten in Istanbul kommt es immer wieder zu Ausschreitungen zwischen Polizei und Protestierenden.

© dpa/AP/Francisco Seco

Schon bei den Gezi-Protesten im Jahr 2013 hatte Erdogan die Protestbewegung als „gewalttätige Vandalen“ beschimpft. „Für seine Anhängerschaft schafft diese Umkehr eine psychologische Entlastung“, sagt Experte Cicek. „Man sieht sich nicht als Unterstützer eines repressiven Systems, sondern als Teil einer bedrohten, aber moralisch überlegenen Gemeinschaft.“

Die Opposition will Erdogans Taktik durchkreuzen. CHP-Chef Özel und Imamoglu distanzierten sich von gewalttätigen Demonstranten und von der Beleidigung von Erdogans Mutter. Für Dienstagabend plante die CHP den vorläufigen Abschluss der Kundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus.

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Die Proteste sollten in den kommenden Tagen mit „neuen Aktionen und neuen Versammlungen“ an anderen Orten weitergehen, sagte Özel. Imamoglu schrieb auf X, er sei Opfer „einer der größten Ungerechtigkeiten unserer politischen Geschichte“, werde sich aber weiter wehren.

Imamoglus Festnahme ist ein Putsch gegen den Willen der Nation.

Özgür Özel, CHP-Chef

Özel besuchte den abgesetzten Bürgermeister am Dienstag erstmals im Hochsicherheitsgefängnis Silivri am westlichen Stadtrand von Istanbul, wo Imamoglu seit Sonntag wegen Korruptionsverdachts in Untersuchungshaft sitzt.

Anschließend sagte Özel, die Festnahme von Imamoglu sei „ein Putsch gegen den Willen der Nation“ gewesen. Er schäme sich für die Regierung seines Landes. Erdogan könne Imamoglu nicht besiegen und wolle ihn deshalb auf andere Weise loswerden.

Erdogan und die AKP würden die Feiertage zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan am kommenden Wochenende nicht genießen können, drohte der CHP-Chef: „Das Fest wird für Tayyip Erdogan eine neue Überraschung sein“, so Özel. „Wir hören nicht auf.“ Die Opposition werde dem Präsidenten „weiter Angst einjagen“.

Die regierungstreue Justiz wiederum eröffnete in diesen Tagen gleich mehrere Verfahren gegen Opposition und Kritiker: am Dienstag neue Ermittlungen gegen Erdogan-Gegner Imamoglu. Und der CHP-Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beyoglu, Inan Güney, wurde wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei einem Bezirksparteitag ebenfalls von der Staatsanwaltschaft vorgeladen.

Und es wurde ein Verfahren gegen die Lehrergewerkschaft Egitim-Sen aufgenommen, die sich mit protestierenden Studenten solidarisch erklärt und zu Lehrerstreiks aufgerufen hatte.

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