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Ein Mann beseitigt die Trümmer eines eingestürzten Hauses, nachdem ein starkes Erdbeben am Sonntag den Osten Afghanistans erschüttert, viele Menschen getötet und Dörfer in der Provinz Kunar zerstört hat.

© dpa/Hedayat Shah

Erdbeben-Helferin berichtet aus Afghanistan: „In Kunar hat jede Frau, mit der ich sprach, mehrere Kinder verloren“

Das schwere Beben in Afghanistan hat Tausenden Menschen das Leben gekostet. Samira Sayed Rahman war vor Ort und erzählt, warum die Hilfe so schwierig ist und worauf es jetzt ankommt.

Stand:

Frau Rahman, aus Kabul sind Sie nach dem schweren Erdbeben direkt in die betroffenen Provinzen gefahren. Was haben Sie dort gesehen?
Sehr viel Tod. Ich besuchte die schwer getroffenen Provinzen Kunar und Nangarhar. In Kunar hat mir jede Frau, mit der ich gesprochen habe, gesagt, dass sie mehrere Kinder durch das Erdbeben verloren hat. Dort sind ganze Dörfer einfach eingestürzt und haben die Bewohner unter sich begraben.

Es gibt vor allem ein Bild, das ich nicht vergessen kann: Auf dem Weg zu den verschütteten Dörfern sah ich eine Menschenmenge am Straßenrand. Vor ihnen war frisch umgegrabene Erde. Sie zeigten darauf und sagten, das seien frische Gräber. 45 Mitglieder einer Familie waren dort begraben.

Die, die überlebt haben, sind jetzt obdachlos. Sie verbringen die Nächte draußen im Freien. Und der Winter steht bevor, in dieser Gegend kann es schnell sehr kalt werden. Als ich da war, hat es nachts geregnet. Und die Kinder schliefen unter freiem Himmel, ohne Schutz oder Decken. 

Anfangs war von 600 Opfern die Rede, inzwischen sind es mehr als 2200. Wieso steigt diese Zahl immer wieder so rapide an?
Weil wir noch nicht alle betroffenen Dörfer erreicht haben. Es gibt noch Orte, denen wir uns seit dem Erdbeben am 31. August nicht nähern konnten.

Die Siedlungen, die ich gesehen habe, waren nur über Flussbetten und Schotterwege zu erreichen. Denn das Erdbeben und die folgenden Nachbeben haben die Straßen zu ihnen abgeschnitten. Deswegen sind viele Hubschrauber im Einsatz. Doch einige Dörfer sind nicht einmal per Hubschrauber zugänglich, weil sie in sehr engen Tälern liegen.

Erwarten Sie also, dass es noch viel mehr Tote sein werden?
Davon gehen wir Rettungskräfte auf jeden Fall aus. Bei einem Erdbeben zählt jede Sekunde. Seit nun mehr als vier Tagen liegen Menschen unter ihren Häusern verschüttet. Deshalb kämpfen gerade Tausende Freiwillige gegen die Zeit. Sie nutzen jede Sekunde, um die Wege zu den entlegenen, verschütteten Gegenden mit bloßen Händen freizuräumen, bestenfalls mit Schaufeln.

Bei weitem nicht alle Opfer können ausreichend medizinisch versorgt werden, wie dieser Jungen im Regionalkrankenhaus Nangarhar in Jalalabad.

© dpa/Siddiqullah Alizai

Die Wege sind so schmal, dass auch Bagger nicht hinkommen können. Die Todeszahlen werden mit jedem freigeschaufelten Dorf weiter ansteigen.

Worauf kommt es vor Ort nun an?
Wir müssen uns um unmittelbare Bedürfnisse kümmern: Zelte, Decken, Lebensmittel, medizinische Hilfe und vor allem Wasser. Denn viele Wasserquellen sind durch die Erdrutsche zerstört worden. Am Mittwoch hat unser Team eine Rohrleitung aufgebaut, um sauberes Trinkwasser in bestimmte betroffene Gemeinden zu bringen. 

Vor dem Regionalkrankenhaus von Nangarhar übernachten Verletzte und Angehörige.

© dpa/Siddiqullah Alizai

Einige Länder haben angeboten, die Menschen in Afghanistan zu unterstützen. Mit wem arbeiten Sie vor Ort zusammen?
Die Behörden vor Ort, also die Taliban-Regierung, haben beinahe jeden um Hilfe gebeten. Save the Children, aber auch andere ausländische Nichtregierungsorganisationen und lokale Vereine sind gerade gemeinsam im Einsatz. Dazu kommen noch Organisationen der Vereinten Nationen und viele Staaten, die humanitäre Hilfe angeboten haben.

Wir sind verzweifelt, ich spüre eine große Hilflosigkeit, denn es fehlt an Finanzierung.

Samira Sayed Rahman

Das einzige Land, das zusätzlich Such- und Rettungsteams geschickt hat, ist aber Katar. Deren Hilfskräfte sind am Donnerstag in Afghanistan eingetroffen. Hoffentlich können wir damit noch einige Überlebende in den isolierten Dörfern finden. 

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, Millionen Menschen leiden an Hunger. Nun ist diese Naturkatastrophe dazugekommen. Werden Sie und Ihre Kollegen vor Ort genug unterstützt, um Ihre Arbeit fortzuführen?
Wir sind verzweifelt, ich spüre eine große Hilflosigkeit, denn es fehlt an Finanzierung. Wir müssen uns immer wieder fragen, welche Krise wir jetzt eigentlich mit unseren begrenzten Ressourcen angehen sollen. Es ist ja nicht nur die dramatische Armut und der weit verbreitete Hunger, sondern auch andere Naturereignisse wie extreme Dürren. Und: In den vergangenen sechs Monaten mussten über zwei Millionen Afghanen den Iran und Pakistan verlassen und wieder nach Afghanistan kommen.

Es ist Krise auf Krise – in einer Situation, in der die Mittel einfach fehlen. Gerade kürzt die Weltgemeinschaft bei Hilfsgeldern und humanitären Budgets – und darunter leidet unsere Fähigkeit, auf die bestehenden Bedürfnisse im Land zu reagieren. Zum Beispiel mussten im letzten Jahr über 400 Kliniken in Afghanistan schließen.

Schon vor den Erdbeben gab es also Engpässe bei medizinischem Material, arbeiteten Ärztinnen und Ärzte rund um die Uhr. Sie können sich nicht vorstellen, wie es jetzt nach den Erdbeben in den Kliniken und Krankenhäusern in den betroffenen Regionen aussieht.

Ihre Organisation hat einen besonderen Blick auf die Unterstützung von Kindern. Was brauchen sie gerade am dringendsten?
Unsere Schätzung ist derzeit, dass über 200.000 Kinder von dieser Naturkatastrophe betroffen sind. Die Kinder, die überlebt haben, sind zutiefst traumatisiert. Sie haben gesehen, wie ihre Angehörigen starben, ihre Welt brach um sie herum zusammen. Das wird bleibende Spuren hinterlassen. Deswegen brauchen sie – neben den überlebensnotwendigen Gütern – psychologische und psychosoziale Unterstützung.

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