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Der französische Präsident Emmanuel Macron (links) gratuliert dem französischen Kämpfer Teddy Riner nach seinem Sieg im Judo-Goldkampf.

© dpa/LUIS ROBAYO

Frankreich feiert sich selbst: Olympia wird zur Verschnaufpause von der Politik-Krise

Kein Premierminister in Sicht, auch keine Regierung: Die Franzosen nehmen die Olympischen Spiele dankbar als Ablenkung an. Aber danach geht das politische Kräftemessen erst recht los.

Von Birgit Holzer

Stand:

Léon Marchand, Antoine Dupont und Teddy Riner, drei der aktuellen französischen Olympia-Superstars, haben Millionen Fans in ihrem Land, aber einer herzt sie besonders enthusiastisch und medienwirksam: Präsident Emmanuel Macron.

Den 22-jährigen Top-Schwimmer Marchand rief er nach dessen erster Goldmedaille vor laufender Kamera an, das Gesicht von Rugby-Spieler Dupont nahm er väterlich in seine Hände, Rekord-Judoka Riner umarmte er innig.

Wer annahm, der französische Präsident werde sich zurücknehmen, seit seine exzessiven Tröstversuche des Top-Fußballers Kylian Mbappé nach der Niederlage der Bleus im WM-Finale 2022 viel Kritik auslösten, hat sich getäuscht.

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Macron sonnt sich im Erfolg der Spiele

Auch die Buhrufe bei der Eröffnungszeremonie konnten Macron wenig anhaben. Er gibt sich als Chef-Anfeuerer, fiebert auf Tribünen mit und reiste extra aus seinem südfranzösischen Feriendomizil an, um bis zu sechs Wettbewerbe an einem Tag zu besuchen.

Stets hatte er angekündigt, die Pariser Spiele würden großartig, ein „Stolz für Frankreich“. Er behielt Recht und sonnt sich in dem Erfolg; ganz so, als durchlebe das Land keine politische Krise, als befänden sich der Premierminister und die Regierung nicht auf Abruf. Macron hat dem Land hat eine „politische Pause“ verordnet. Und diesem bekommt das sehr gut.

Valentin Madouas aus Frankreich fährt am Moulin Rouge in Paris vorbei.

© dpa/Jan Woitas

Was war im Vorfeld gewarnt und geklagt worden – über die Ausrichtung der Spiele mitten in der Stadt, das Sicherheitsrisiko einer gigantischen Eröffnungsfeier auf der Seine, über all die Absperrungen, Umleitungen, Zugangsbeschränkungen vor Ort.

Die Zuschauerzahlen schlagen alle Rekorde

Doch diese Ärgernisse scheinen vergessen. Anders als befürchtet kam es bislang weder zu einem Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrssystems noch zu einem größeren Sicherheitsvorkommnis – abgesehen von Brandanschlägen auf das Kabelnetz der französischen Bahn am Tag des Olympia-Starts am 26. Juli.

Die spektakuläre Eröffnungsfeier an jenem Abend galt als würdiger Auftakt für zwei fröhliche Feierwochen vor Postkarten-Kulisse. Die Tribünen in den Hallen und den Stadien sind voll. Auch in den Fan-Zonen und an den Straßenrändern drängen sich die Menschen.

Mehr als 9,2 Millionen Tickets wurden bis Wochenbeginn verkauft, jeden Tag kommen mehrere Zehntausend hinzu. Der bisherige Rekord lag bei 8,3 Millionen Karten in Atlanta 1996. Französische Medien berichten über etliche Bewohner, die Paris bewusst verlassen haben und dies nun zutiefst bereuen.

Warten auf einen neuen Premier

Frankreich erlebt eine Art Klammer, eine Ausnahmephase nach – und voraussichtlich vor – einer strapaziösen politischen Zeit. Die spontan ausgerufenen Parlamentswahlen Anfang Juli haben zu unklaren Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung geführt.

Keiner der drei großen Blöcke – die links-grüne Allianz Neue Volksfront (NFP), Macrons Lager und das Bündnis aus Republikanern und dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) – verfügt über eine absolute Mehrheit.

Lucie Castets (Mi.) bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt als Kandidatin für das Amt der Premierministerin der Linken-Grünen-Allianz in Lille.

© AFP/Francois Lo Presti

Als größte Gruppe schlägt die NFP die Finanzexpertin Lucie Castets als Premierministerin vor. Macron ging darauf bislang nicht ein. Seine Regierung, obwohl zurückgetreten, leitet weiter die Geschäfte. Nun heißt es in den Medien, der Konservative Xavier Bertrand, Regionalratspräsident der nördlichen Region Hauts-de-France, sei als Premier im Gespräch.

Viel Zeit für Gedankenspiele

Solche Gedankenspiele führen jedoch nicht weit, sagt der Politologe Benjamin Morel. „Weder Castets noch Bertrand könnten ohne die Stimmen des Rassemblement National regieren.“

Es gebe drei Möglichkeiten: Die Bildung einer Mitte-Koalition, die aber das Zerbrechen der NFP voraussetzt, ein unpolitisches Experten-Kabinett oder eben eine Minderheitsregierung, die von Marine Le Pen abhängig wäre. Denn die RN-Fraktionschefin könnte jederzeit für einen Misstrauensantrag stimmen.

Macrons Kommunikationsstrategie befindet sich irgendwo zwischen Genie und Unsinn.

Benjamin Morel, Politikwissenschaftler

Auch Macrons Situation sei unbequem, zumal der Kampf um seine Nachfolge in der politischen Mitte längst begonnen habe, so Morel. Die Beliebtheitswerte des Präsidenten stiegen während der Spiele höchstens leicht.

„Seine Kommunikationsstrategie befindet sich irgendwo zwischen Genie und Unsinn. Er versucht, jeweils bestimmte Bevölkerungsgruppen anzusprechen.“ Indem er sich nun auf Tuchfühlung mit Athleten zeige, wolle er ein Gefühl der Empathie auslösen. Mit mäßigem Erfolg: Stiegen seine Beliebtheitswerte zuletzt leicht, so bleibt die Ablehnung Macrons insgesamt beträchtlich.

Die Brüche in der Gesellschaft bestehen fort

Die politische Lage wird Morel zufolge nach diesem Olympia-Sommer ebenso verzwickt sein wie davor. Allein bis Jahresende den Haushalt zu verabschieden, werde hochkomplex.

1998 habe der WM-Sieg der französischen Fußballmannschaft für Euphorie gesorgt. Das Schlagwort „black-blanc-beur“ („schwarz-weiß-arabisch“) stand für ein multikulturelles, weltoffenes Frankreich. Von Dauer war das nicht: Vier Jahre später erreichte der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen die zweite Runde.

„Die Brüche in der Gesellschaft bestehen fort, nicht nur in Frankreich: Sie haben wirtschaftlich-soziale Ursachen, berühren Fragen der Identität, der Einwanderung und das Gefühl, von der politischen Klasse nicht repräsentiert zu sein“, so Morel. Probleme, die die Spiele nicht lösen, höchstens kurz vergessen lassen können.

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