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Frankreich versinkt im Regierungschaos: „Wie lange kann die politische Situation noch vermodern?“
Wie seine Vorgänger scheiterte auch Frankreichs jüngster Premier Lecornu am Haushaltsstreit im Parlament. Doch Präsident Macron lässt ihn nicht gehen. Wo soll das hinführen?
Stand:
Frankreichs neuer Premierminister ist der alte: Sébastien Lecornu. Nach Tagen des Spekulierens über das weitere Vorgehen von Präsident Emmanuel Macron ernannte dieser am späten Freitagabend ausgerechnet den Mann erneut zum Regierungschef, der am Montag zuvor seinen Rücktritt bei ihm eingereicht hatte.
Den Mann, der am Mittwoch bei einem Fernsehinterview gesagt hatte, er stehe für den Posten nicht mehr zur Verfügung. „Aus Pflichtgefühl“, so ließ Lecornu am Freitagabend wissen, nehme er die ihm von Macron aufgetragene Mission nochmals an.
In der Opposition war das Unverständnis über diesen politischen Reigen groß. „Unglaublich“, sagte Grünen-Chefin Marine Tondelier, während der Chef des rechtsextremen Rassemblement National (RN), Jordan Bardella, urteilte, der Präsident stehe „isolierter und von der Realität entfremdeter denn je“ da. „Macron verschiebt elendig das Unvermeidliche: seinen Abgang“, schrieb die Fraktionschefin der Linkspartei LFI (La France Insoumise, „das Unbeugsame Frankreich“), Mathilde Panot, auf X.

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Von den Republikanern und den Sozialisten kamen zunächst zurückhaltendere Reaktionen. „Wir bleiben eine Oppositionspartei“, versicherte die Sprecherin der Parti Socialiste, Dieynaba Diop, ohne sich über das weitere Vorgehen zu äußern. Auf die Unterstützung oder zumindest Duldung der gemäßigten Linken und Rechten wird es ankommen, ob zumindest ein Haushaltsgesetz für 2026 die parlamentarische Hürde nehmen wird. Dieses muss Lecornu bis Montag in die Nationalversammlung einbringen, damit es rechtzeitig bis zum 31. Dezember beschlossen werden kann.
Bereits im Laufe der Woche hatte der 39-Jährige Gespräche mit den politischen Gruppen geführt, um zumindest einen Minimalkonsens zu finden. Zwar verkündete er zwischenzeitlich, dass eine „absolute Mehrheit“ von Abgeordneten neue Parlamentswahlen ablehne – den meisten Parteien, abgesehen von den Rechtsextremen, würden Verluste von Sitzen drohen.
Ein Durchbruch zeichnete sich jedoch nicht ab. Auch ein Krisentreffen am Freitagnachmittag, das Macron mit den Vertretern aller Parteien außer dem RN und LFI einberufen hatte, verlief ergebnislos. Die Sozialisten wiederholten ihre Forderung, die unpopuläre Rentenreform von 2023 auszusetzen – doch die Republikaner und auch ein Teil von Macrons Lager stemmten sich dagegen. Es handelt sich um das Hauptprojekt von Macrons zweiter Amtszeit.
Als Indiz dafür, wie sehr der Präsident in die Ecke gedrängt und bis zuletzt unschlüssig war, konnte gewertet werden, dass die erneute Nominierung Lecornus nicht wie angekündigt am Freitagabend vor 20 Uhr erfolgte, sondern zwei Stunden später. Dieser bekomme einen „Freibrief“ für die Ausgestaltung seiner Regierung und Politik, hieß es aus dem Élysée-Palast. Man werde aus den vergangenen Fehlern lernen und ein „erneuertes Kabinett“ aufstellen.
Doch die Nähe beider Männer ist bekannt. Lecornu verkörpert keineswegs den versprochenen Neuanfang, hatte er doch seit Macrons Amtsantritt stets ein Ministeramt inne. Zuletzt leitete er das Verteidigungsressort.
Bei Beliebtheitsumfragen legte der zunächst wenig bekannte Politiker durch seine uneitle, besonnene Art zuletzt zwar zu. Auch lobten Oppositionsvertreter seinen respektvollen Ton. Das konnte aber eine Lösung nicht ersetzen. Die Krise ist keineswegs überwunden.
Die eigentliche Frage lautet: Wie lange kann die politische Situation noch stagnieren und allmählich vermodern, bis die Bevölkerung vor Frust explodiert?
Die Lage für den französischen Präsidenten sei relativ aussichtslos, analysiert John Jerome Goodman, Leiter des französischen Ablegers der privaten Syracuse University in Straßburg. „Es wird sehr hart für ihn und das Land werden, es bis zur nächsten Präsidentschaftswahl in 18 Monaten zu schaffen – wenn es ihm überhaupt gelingt“, sagt er dem Tagesspiegel.
Bemerkenswert sei, dass Macron nahestehende politische Persönlichkeiten wie sein ehemaliger Premierminister Édouard Philippe ihn zu einem geordneten Rücktritt und vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen aufriefen. Der Präsident selbst hat stets betont, bis zum Ende seiner fünfjährigen Amtszeit im Jahr 2027 an der Macht bleiben zu wollen. Doch welchen Handlungsspielraum wird er haben, zumal die Budgetzwänge angesichts der hohen Verschuldung groß sind?
Bei manchen, so Goodman, habe anlässlich von Lecornus erster Nominierung die Hoffnung bestanden, sie könne Macron retten, wenn der Premierminister in der Lage sein würde, eine Koalition „zusammenzuschustern“ und ein Haushaltsgesetz durchzubringen, das das Land 2026 stabilisiert und bis zum nächsten Wahlzyklus führt.
Diese Hoffnung sinke zunehmend, analysiert der Experte: „Die eigentliche Frage lautet: Wie lange kann die politische Situation noch stagnieren und allmählich vermodern, bis die Bevölkerung vor Frust explodiert?“ Unter diesen Bedingungen seien 18 Monate eine Ewigkeit. Eine Ansicht, die inzwischen viele Menschen in Frankreich teilen.
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