
© AFP/Gavriil Grigorov
„Für Putin peinlich“: Analysten sehen Vertrauensverlust für Russlands Machthaber nach Kursk-Einmarsch der Ukraine
Keine scharfen Drohungen, wenig militärische Gegenwehr: Die Offensive der Truppen Kiews zeigt im Netz Folgen für den Kremlchef, so US-Web-Analysten. Andere Experten sind zurückhaltender.
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Der Angriff kam überraschend, auch für den Mann im Kreml: Vor gut zwei Wochen haben die ukrainischen Truppen einen Vorstoß auf russisches Territorium gestartet und in der Region Kursk größere Gebiete besetzt. Die Offensive der Armee Kiews und vor allem die Reaktion der Truppen des russischen Machthabers Wladimir Putins darauf, haben offenbar in Russland dazu geführt, dass Putin an Vertrauen einbüßt. Dies berichtet die „New York Times“ (NYT) unter Berufung auf eine Analyse des US-Unternehmens Filter Labs AI.
Der Kreml-Chef spielt den Vorstoß der Ukraine in der russischen Grenzregion Kursk – der größte Angriff auf russischem Gebiet seit dem Zweiten Weltkrieg – bislang als „Entwicklung“ des Konflikts herunter. Ziel der Ukraine ist es auch, möglichst viele Kriegsgefangene zu machen, um sie gegen inhaftierte Ukrainer auszutauschen, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag bei einem Besuch in dem Gebiet bekräftigte.
Putins Reaktion auf den Einmarsch wurde bestenfalls als unzureichend und schlimmstenfalls als beleidigend empfunden.
Jonathan Teubner, Geschäftsführer von Filter Labs
Die Firma Filter Labs verfolgt dem Bericht zufolge die Einstellungen der Menschen in Russland durch die Analyse von Nachrichtenseiten, sozialer Medien und anderer Internet-Postings und setzt spezielle Software ein, um die Stimmungen der Russinnen und Russen einzufangen. Ansonsten sei es schwierig, die öffentliche Meinung in Russland wie auch in anderen Ländern zu erfassen, weil Befragte bei Erhebungen oft Antworten gäben, von denen sie glauben, dass sie von der Regierung gewünscht werden.
Der Analyse von Filter Labs AI zufolge sind demnach viele in den Online-Postings der Meinung, dass der Vormarsch der Ukraine ein Versagen der russischen Regierung und insbesondere Putins ist. Die positive Einstellung zu Putin hatte dem Bericht zufolge bereits im vergangenen Jahr nach der kurzlebigen bewaffneten Rebellion unter der Führung von Jewgeni Prigoschin, dem Chef einer russischen paramilitärischen Truppe, einen Dämpfer erhalten.
In den Tagen nach dem Einmarsch der ukrainischen Truppen in die westrussische Region Kursk habe sich der Stimmungsumschwung jedoch noch verschärft. „Putins Reaktion auf den Einmarsch wurde bestenfalls als unzureichend und schlimmstenfalls als beleidigend empfunden“, so Jonathan Teubner, der Geschäftsführer von Filter Labs.
In Moskau, wo Russland die Nachrichtenmedien und die öffentliche Debatte stärker kontrollierten, sei die Einstellung gegenüber Putin nach wie vor positiver. Aber auch dort habe sich die Meinung über Putin verschlechtert, wenn auch nicht so schnell wie anderswo im Land. In den entlegenen Regionen Russlands wachse die Frustration über den Kreml, so die Analyse.
US-Beamte geben dem Bericht zufolge zu bedenken, dass es noch zu früh sei, um zu wissen, ob Putins Ruf dauerhaft geschädigt sei. Putins Ansehen in Russland habe sich nach der Beendigung der Rebellion durch Prigoschin schnell wieder erholt, und der russische Präsident habe immer wieder bewiesen, dass er in der Lage sei, die öffentliche Meinung über sich zu manipulieren, so die Beamten. Dennoch könnte ein dauerhafter Verlust an Popularität die Fähigkeit des Kremls erschweren, den Krieg in der Ukraine zu weiterzuführen.
„Es ist im Moment schwierig, die Auswirkungen der ukrainischen Gegenoffensive zu bestimmen“, sagte Teubner. „Aber es ist klar, dass sie schockierend und für Putin peinlich ist. Die Propaganda des Kremls, Spin und Ablenkung können angesichts schlechter Nachrichten, die in ganz Russland diskutiert werden, nur wenig ausrichten.“ Die Stimmung gegenüber Putin sei in den Regionen Russlands, in denen der Kreml seine militärischen Rekrutierungsbemühungen konzentriert, drastisch gesunken.
„Wenn Putins Ansehen und Popularität in diesen Schlüsselregionen sinken (insbesondere wenn die Russen das Gefühl haben, dass der Krieg schlecht läuft), könnte es für den Kreml schwieriger werden, seine militärischen Reihen zu füllen“, so die Analyse von Filter Labs.
Der Kreml übe weiterhin Einfluss darauf aus, wie Russlands nationale Nachrichtensender über den Krieg berichten, zeige die Analyse. Regionale Nachrichtensender beschönigten die Nachrichten jedoch seltener, so Teubner.
Im russischen Staatsfernsehen überwiegen aktuell die Berichte über die humanitäre Situation in Kursk. Die TV-Bilder zeigen Menschen, die aus ihren Häusern evakuiert werden, sowie die freiwilligen Helfer.
Anders als Filter Labs sieht der Leiter des Forschungszentrums Carnegie Russland-Eurasien in Berlin, Alexander Gabuew, nur wenig Ärger über das schnelle Vorrücken der ukrainischen Truppen oder Kritik an der langsamen Reaktion der russischen Armee bei den Bürgerinnen und Bürgern. Nach 30 Monaten Krieg gegen die Ukraine habe sich die Bevölkerung an Berichte über Gewinne und Verluste ihrer Streitkräfte gewöhnt, sagte Gabuew der Nachrichtenagentur AFP.
Trotzdem sei der Angriff auf russisches Gebiet „schmerzhaft, wie man an den Reaktionen sehen kann“, betont Gabuew. Es gebe einen Unterschied „zwischen dem Verlust von russischem Gebiet und dem Verlust eroberter Gebiete“ in der Ukraine.
Landesweit werde sich die Einstellung zum Krieg in der Ukraine aber nicht ändern, vermutet Gabuew. „Ich glaube nicht, dass diese Art von Niederlage für die russische Elite oder die Bevölkerung eine große Neuigkeit ist“, erklärte er. In Moskau, wo im Abstand weniger Wochen gewichtige Nachrichten eintreffen, gehe solch ein Schock schnell wieder vorüber.
Auch die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja sagte demnach, der ukrainische Vormarsch werde „einfach nur als Teil des Krieges wahrgenommen“. Das Geschehen sei „nicht auf landesweitem Niveau spürbar“.
Stanowaja verweist darauf, dass die russische Armee auf ihrem eigenen Gebiet derzeit wenige militärische Möglichkeiten habe. „Putin wird die Region Kursk nicht so bombardieren, wie er Bachmut bombardiert hat“, erklärte sie mit Blick auf die Stadt im Osten der Ukraine, die russische Truppen im Frühjahr vergangenen Jahres nach langer Belagerung und heftigen Verlusten besetzt hatten. Die ukrainische Besatzung in Kursk könne deshalb „über Monate“ andauern.
Die Fachleute gehen davon aus, dass im Kreml derzeit die Möglichkeiten für einen Gegenangriff abgewogen werden. Bei einer solchen Entscheidung lasse sich der russische Präsident in der Regel Zeit. „Früher oder später werden wir erfahren, wie sich Putin rächen wird“, warnte Gabuew.
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