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„Frage der Zeit, bis sie wieder Krieg provoziert“: Die Hamas übernimmt in Gaza erneut die Macht
Die sorgfältig inszenierten Bilder nach der Waffenruhe machen deutlich, dass die Hamas nicht verschwunden ist. Eine Fortführung des Krieges scheint das wahrscheinlichste Szenario.
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Es sind Bilder, die die Hamas dringend brauchte und die Israel fürchtete: Seit Beginn der Waffenruhe in Gaza fahren Kolonnen von Pick-up-Trucks mit maskierten Kämpfern durch die zerstörte Stadt und Hamas-Polizisten patrouillieren in den Zeltlagern.
Nachdem die Gruppe 15 Monate lang auch als Zivillisten getarnt gekämpft hat, zeigen sich die Männer plötzlich wieder in Uniformen in den Menschenmassen. Ihre Fahrzeuge wirken frisch geputzt, Handfeuerwaffen scheinen in ausreichender Zahl vorhanden.
Die Botschaft der Terrororganisation ist unmissverständlich: Sie wurde nicht zerstört und sie kontrolliert den Gazastreifen weiterhin. Was das bedeutet, machte sie am Donnerstag deutlich. Auf sozialen Medien wurde ein Video veröffentlicht, in dem Hamas-Kämpfer in Uniform drei am Boden liegende Palästinenser hinrichten, die angeblich mit Israel kollaboriert haben sollen.

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Auch die Kontrolle über die zivile Verwaltung beginnt die Hamas wieder aufzubauen. Polizeikräfte auf den Straßen regeln den Verkehr und kontrollieren die Lieferungen von Hilfsgütertransportern. Ein Hamas-Beamter ließ sich von Journalisten ablichten und sagte diesen: „Das Bild ist klar. Diejenigen, die die Bürger schützen, sind die Kräfte des Innenministeriums.“
Das „Modell Hisbollah“ ist attraktiv für die Hamas
Selbst für viele Bewohner Gazas war das Auftauchen der Kämpfer eine Überraschung: „Sie kamen mit einem Fingerschnippen aus ihrem Versteck“, sagte Mohammed, 24, der darum bat, seinen Nachnamen nicht zu nennen, der „New York Times“: „Wir haben keine Ahnung, wo diese Leute während des Krieges waren.“
Dabei hatten Hamas-Anführer bereits zuvor angedeutet, dass sie mit einer Aufgabe der Kontrolle über die zivile Verwaltung leben könnten. Es käme der Gruppe vermutlich entgegen, wenn die Versorgung der Anwohner und der Wiederaufbau von internationalen Organisationen durchgeführt wird und die Hamas sich ganz auf die Fortsetzung ihres militärischen Kampfes konzentrieren kann: nach demselben Model funktioniert auch die Hisbollah im Libanon.

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In Israel werden dieselben Bilder von nicht wenigen als Beweis der eigenen Niederlage wahrgenommen: „Israel erwacht aus einem Alptraum in den gleichen Alptraum“, schreibt etwa die israelische Zeitung Yediot Ahronot. „Die Hamas wird an der Macht bleiben und weiterhin mehr Tunnel bauen und mehr Männer rekrutieren, ohne dass sich eine lokale Alternative abzeichnet.“
Mehrheit der Palästinenser unterstützt weiterhin die Hamas
Dabei hatte Netanjahu einen „totalen Sieg“ versprochen. Zwar droht er damit, die Kämpfe nach Ende der Waffenruhe wieder aufzunehmen. Doch fraglich ist, was dann militärisch erreicht werden soll, was nicht bereits zuvor hätte erreicht werden können. Insbesondere, da die Hamas sich nun neu aufstellt und eingräbt. Zumal die Rückkehr der Bewohner in die Stadt die Kämpfe für Israel in Zukunft ungleich schwerer machen wird.
Kritiker hatten Netanjahu immer wieder vorgeworfen, keinen Plan für die Zeit nach dem Ende der Hamas-Herrschaft zu haben. Ein Versuch, lokale Clans für eine gemeinsame Verwaltung zu gewinnen, scheiterte. Die Palästinensische Autonomiebehörde wird in absehbarer Zeit wohl auch keine größere Rolle spielen.

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Allerdings zeigen Umfragen des „Palästinensischen Zentrums für Politik-Untersuchung“, dass zumindest bis vor wenigen Monaten die Mehrheit der Palästinenser die Hamas unterstützt. Selbst in Gaza sprachen sich im September noch 35 Prozent (nur drei Prozent weniger als im Vorjahr) für die Hamas und nur 26 Prozent für die Fatah aus. Im Westjordanland genießt Abbas’ Fatah fast gar keinen Rückhalt. Insgesamt 84 Prozent aller Palästinenser finden, er solle sofort zurücktreten.
Hamas hat eine Fortsetzung des Kampfes gegen Israel angekündigt
Dennoch hat die Hamas fraglos schwere Verluste erlitten. Israel gibt an, rund 20.000 Kämpfer getötet zu haben: fast die Hälfte der insgesamt von palästinensischer Seite gemeldeten Toten. Das Raketenarsenal scheint vollkommen zerstört zu sein, da selbst auf die Tötung von Hamas-Führern kaum noch Raketen folgten. Auch dürfte ein Großteil des Tunnelnetzwerkes zerstört sein.
Doch der von der Hamas durchgesetzte Rückzug Israels von der Grenze zu Ägypten würde mittelfristig ihre Wiederbewaffnung über neue Tunnel ermöglichen. Daran lässt sie keinen Zweifel. Ihr Verhandlungsführer sagte beim Abschluss des Abkommens mit Israel, dass man weiterhin die Zerstörung Israels anstrebe und der „Kompass“ die Eroberung Jerusalems sei. Der 7. Oktober sei „eine Quelle des Stolzes für unser Volk, die von Generation zu Generation weitergegeben wird“, fügte er hinzu.
„Es könnte eine Weile dauern, bis die Hamas einen Punkt erreicht, an dem sie Israel zu einem weiteren großen Krieg provozieren kann“, sagte Alaa, ein weiterer Bewohner von Gaza, der seinen Nachnamen ebenfalls nicht nennen wollte, einem „New York Times“-Reporter: „Aber solange sie an der Macht ist, ist es nur eine Frage der Zeit. Es fällt schwer, eine andere Schlussfolgerung zu ziehen, als dass es hier keine Zukunft gibt.“
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