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Der ukrainische Präsident Selenskyj am 21. Februar 2023 in Kiew.

© dpa/Zuma Press/Pool /Ukrainian Presidential Office

Krieg in der Ukraine: Was macht die russische Invasion mit der Demokratie im Land?

Die Ukraine strebt in die Nato, auch ein Beitritt zur EU steht ihr offen. Doch wie wehrhaft ist die junge Demokratie in der Ukraine angesichts des russischen Angriffskrieges? Drei Experten ordnen das ein.

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Nur vier Monate nach der russischen Invasion in der Ukraine erhielt das Land den Status des EU-Beitrittskandidaten. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte erst im Februar in Helsinki: „Die Nato-Verbündeten sind sich einig, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden wird“.

Doch unterminiert die Kriegssituation im Land womöglich die Bestrebungen nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen die Korruption im Land? Was macht der Angriffskrieg mit der politischen Landschaft der Ukraine? Drei Einschätzungen in unserer Kolumne „3 auf 1“. (Alle Folgen von „3 auf 1“ finden Sie hier.)


Nach dem Krieg wird Selenskyjs Konkurrenz groß sein

Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich nicht verwirklicht. Am 24. Februar 2022 dachte ich: „Das war’s für eine Weile mit der Meinungsfreiheit in der Ukraine.“ Tatsächlich ist es aber so, dass man über vieles streiten kann und sollte. Zum Beispiel über Einschränkungen beim Frontzugang für Journalisten oder über die einheitliche Dauernachrichtensendung, die ukrainische Informationssender gesetzlich ausstrahlen müssen. Korruptionsfälle werden fast noch stärker als vorher von Kollegen aufgedeckt und öffentlich diskutiert.

In den meisten Medien findet weitgehend freie Berichterstattung statt. Politisch gibt es sicher Versuche, mehr Macht an den Präsidenten zu binden. Dass die aktuelle Opposition kaum zu sehen ist, hat damit allerdings weniger zu tun.

Ihre Anführer wie Petro Poroschenko sind Politiker der alten Garde und wirken endgültig wie aus der Zeit gefallen. Wolodymyr Selenskyj mag ein perfekter Kriegspräsident sein. Doch nach dem Krieg werden mit ihm völlig andere Menschen konkurrieren. Der Wettbewerb wird groß und spannend sein.


Niemand will die „alte Ukraine“ wiederaufbauen

Demokratie ist ein Prozess. In der Ukraine ähnelte er bis jetzt einem Pendel zwischen Demokratie und Autokratie. Paradoxerweise könnte der russische Krieg der Ukraine einen Schub in Richtung Demokratie geben. Gewöhnlich tun Kriege jungen Demokratien nicht gut. Die Freiheit wird der Sicherheit geopfert. Rufe nach dem „starken Mann“ werden laut. Die Schattenwirtschaft wächst. Die Gesellschaft spaltet und radikalisiert sich. Nichts davon ist zurzeit in der Ukraine in einem besorgniserregenden Ausmaß zu beobachten.

Im Gegenteil. Die Gesellschaft hält zusammen und stützt gemeinsam mit lokalen Behörden und Unternehmen den Widerstand des ukrainischen Staates. Zugleich fordern die Ukrainer schon jetzt, die durch das Kriegsrecht erweiterten Befugnisse von Präsident Selenskyj nach Kriegsende wieder einzuschränken.

Niemandem geht es darum, die „alte Ukraine“ wiederaufzubauen. Man diskutiert Strategien, wie die Ukraine dieses Momentum zur Beschleunigung der rechtsstaatlichen Reformen, der wirtschaftlichen Modernisierung und der Integration in die EU nutzen kann.


Der politische Wettbewerb ist nicht verschwunden

Russlands Krieg, der auf die Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit und Nation abzielt, ist eine Triebkraft sowohl für destruktive als auch für konstruktive Veränderungen. Der natürliche Drang zur Zentralisierung während des Krieges hat zu Spannungen in der dezentralen Machtstruktur der Ukraine und im parteipolitischen Gefüge geführt, jedoch nicht zu einer vollständigen Monopolisierung der Macht oder zum Verschwinden des politischen Wettbewerbs.

Die Fernsehnachrichten sind seit dem Krieg stärker zentralisiert, Printmedien verzeichnen einen Rückgang und Informationskanäle, die auf sozialen Medien basieren, erleben einen Aufschwung. Die „Oligarchie“ und ihre Fähigkeit, die nationale Gesetzgebung und Regierungsentscheidungen zu beeinflussen, verändern sich derzeit grundlegend.

Dem Kampf gegen die Korruption und der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet – mit ermutigenden wie frustrierenden Ergebnissen. Wer die Ukraine unterstützen will, muss dem Trend der politischen Überzentralisierung entgegenwirken und Verbindungen zwischen nationalen, regionalen und lokalen Akteuren in der Ukraine und ihren ausländischen Partnern stärken. 

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