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Wen hat Russland freigelassen?: Vielleicht steigt Julianas Mann aus einem der Busse – doch dafür gibt es keine Garantie
Zahlreiche Angehörige ukrainischer Soldaten warteten dieses Wochenende auf die Rückkehr ihrer Liebsten aus russischer Haft. Für einige endet das verzweifelte Bangen – für die meisten geht es weiter.
Stand:
Juliana Ljaschenko weiß nicht, ob ihr Mann Olexander noch lebt. Seit dem 6. Dezember 2024 gilt er als vermisst.
Und trotzdem steht sie, wie Hunderte andere, an diesem Wochenende vor einem temporären Aufnahmegebäude für freigekommene Kriegsgefangene im Norden der Ukraine. Der genaue Ort darf aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgegeben werden.
Juliana hat ein laminiertes Foto ihres Partners in der Hand und einen Gedanken im Kopf, der alle hier eint: Vielleicht steigt heute mein Angehöriger aus einem der Busse.
Olexander, wie Juliana 37 Jahre alt, wurde im Herbst an die Front nahe Kursk verlegt. Wenige Wochen später: kein Anruf mehr, keine Nachricht. Nur noch Stille.
„Ich bin mit 17 anderen Angehörigen aus unserer Stadt in der Region Sumy angereist“, sagt Ljaschenko. „Vielleicht bekommen wir heute wenigstens irgendeine Information – ob sie leben, ob jemand sie gesehen hat, ob sie ausgetauscht werden.“
2000 Gefangene sollen ausgetauscht werden
Die Minuten der Hoffnung beginnen am Samstagnachmittag mit einem Hupkonzert. Vier Busse biegen im Schritttempo um die Ecke. „Willkommen! Willkommen!“, rufen die Wartenden im Chor. Viele tragen T-Shirts mit den Fotos ihrer Vermissten und halten die Porträts ihrer Angehörigen in Richtung der Fenster, hinter denen sich die kahlgeschorenen Köpfe der Rückkehrer abzeichnen.

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Es ist der zweite von drei Tagen des bislang größten Gefangenenaustauschs seit Kriegsbeginn. An diesem Samstag kehren insgesamt 614 Menschen in ihr jeweiliges Heimatland zurück, am Ende werden es 2000 sein. Unter ihnen sind sowohl Soldaten als auch Zivilisten.
„1000 gegen 1000“ – so lautet die Formel des Deals, auf den sich eine russische und eine ukrainische Delegation vor anderthalb Wochen in Istanbul geeinigt hatten.
Trotzdem handelt es sich bei den freigelassenen Ukrainern nur um einen Bruchteil der auf dem Schlachtfeld und in den besetzten Gebieten verschollenen Menschen. Im Februar sprach Präsident Wolodymyr Selenskyj von „Zehntausenden“ Vermissten, deren Schicksal ungewiss sei.
Russlands Gefängnisse sind für Folter berüchtigt
Vor dem Empfangsgebäude ist diese Ungewissheit an diesem Samstag greifbar. Angehörige sind aus dem ganzen Land angereist, sie haben Kinder dabei und im Gepäck Thermoskannen und Hoffnung. Sie stehen hier, weil es eine minimale Chance auf ein Wunder gibt. Ohne Garantie.

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Und das ist kein Zufall. Während die Ukraine Namen veröffentlicht, Listen an internationale Organisationen übergibt und russischen Kriegsgefangenen frühzeitig Kontakt mit Angehörigen ermöglicht, blockiert Russland nahezu jede Form des Informationsaustausches.
Und doch endet das Warten für einige wenige heute mit der lang ersehnten Erlösung, als die Busmotoren endlich verstummen und sich die Türen öffnen. Die Männer steigen nacheinander aus, alle mit Ukrainefahnen über den Schultern.
Er hat meine Stimme erkannt.
Olena Juswak über den Moment, als ihr freigelassener Mann Jurij aus dem Bus stieg.
Ihre Bewegungen wirken lebhafter, als ihre Gesichter es vermuten lassen: blass, erschöpft und von der Gefangenschaft gezeichnet. Was die Männer in den für ihre brutalen Haftbedingungen berüchtigten Haftanstalten erleiden mussten, wird wohl erst in den kommenden Tagen und Wochen an die Öffentlichkeit dringen.
Für einen kurzen Moment liegt Stille über dem Hof. Erleichterung und Freude sind spürbar, doch sie bleiben leise, fast andächtig. Dann kippt plötzlich die Ruhe. Namen werden gerufen, durcheinander, dringlich, in der Hoffnung, dass jemand auf sie reagiert. Fotos werden hochgehalten, Blicke wandern suchend von Gesicht zu Gesicht. Jeder und jede sucht nur eines.
Überwältigung bei wiedervereinten Familien
Olena Juswak, 36 Jahre alt, hat ihres gefunden. Die Szene, in der sie ihren Mann Jurij vor dem Bus erkennt und sich mit ihm in die Arme schließt, wird wenig später durchs ganze Land gehen. Während er sich drinnen registrieren lässt und duscht, steht sie draußen, Tränen im Gesicht – und gibt ein Interview nach dem anderen.

© dpa/AP/Evgeniy Maloletka
Auch sie kam vor zwei Tagen auf gut Glück angereist. Anfang April war sie schon einmal hier, bei einem anderen Austausch. „Ich habe nur gehofft“, sagt sie. Als die Busse dieses Mal eintrafen, rief sie seinen Namen. „Er hat meine Stimme erkannt.“ Wie sich das anfühlte? Dafür findet sie hier und jetzt gerade keine Worte.
In den nächsten Wochen und Monaten, sagt sie, stehe die Reha im Vordergrund. „Zu Hause wird er schneller zu sich finden. Die Kinder warten schon auf ihn.“ Ein Mädchen, neun Jahre alt. Ein Junge, sieben.
Im Schatten eines Baums ein anderer Lichtblick. Eine Familie steht im Kreis. Der Rückkehrer hält seinen kleinen Sohn im Arm, seine Mutter drückt beide an sich. Um sie herum versammeln sich andächtig Großeltern und Freunde. Ein stilles, behutsames Wiedersehen abseits des Trubels. Solche Szenen bleiben jedoch selten.
Nach etwa einer Stunde verlassen die ersten Männer wieder das Aufnahmezentrum. Frisch geduscht, in neuer Kleidung. Ein wenig Farbe ist in ihre Gesichter zurückgekehrt. Draußen warten noch immer über 100 Angehörige mit Fotos auf sie.
Viele warten vergeblich
Der Vater des 26 Jahre alten Wolodymyr Bohdan hält das Bild seines Sohnes so hoch, wie er kann. Seine Frau Switlana sitzt daneben im Rollstuhl. Die beiden sind aus Charkiw angereist. „Zwei Jungs aus seiner Einheit sind in Gefangenschaft geraten“, sagt sie. „Wir hoffen, dass sie uns etwas sagen können, falls sie ausgetauscht werden.“
Bohdan, Rufname „Zigan“, meldete sich 2022 freiwillig, seit dem Sommer 2024 gilt er als vermisst. „Er war ein Patriot“, sagt sein Vater über ihn – in der Vergangenheitsform, mit der beide über ihren Sohn sprechen. Switlana hat sich heute trotzdem festlich angezogen. Nur für den Fall der Fälle.
Emotionen helfen nicht. Wir müssen weitermachen.
Juliana Ljaschenko wartete vergeblich auf ihren Mann Olexander.
Nur wenige Meter weiter steht ein freigelassener Soldat, umringt von wartenden Angehörigen. Sie zeigen ihm Fotos, eines nach dem anderen. Er betrachtet jedes Bild lange, mit müden, ernsten Augen, dann schüttelt er den Kopf. Eine ältere Frau dreht sich wortlos um und atmet tief durch. Und geht weiter. Zum nächsten.
Auch Juliana Ljaschenko steht noch immer auf dem Hof vor dem Gebäude. Ihr Mann war heute wieder nicht dabei. Einige aus ihrer Reisegruppe hatten kleine Erfolge, manche der Freigekommenen erkannten ihre Angehörigen wieder. „Aber niemand weiß genau, wo sie jetzt sind“, sagt sie. „Sie werden ständig verlegt.“
Kurz scheint es, als würde sie die Fassung verlieren, doch dann wirkt sie wieder ruhig und gefestigt, diszipliniert. „Emotionen helfen nicht“, sagt sie. „Wir müssen weitermachen.“ Am nächsten Tag will sie wiederkommen.
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