
© IMAGO/SNA
„Pokrowsk und Myrnohrad sind schon verloren“: Ukrainische Soldaten zeichnen ein düsteres Bild der umkämpften Frontstädte
Der ukrainische Generalstab bestreitet eine Einkesselung zweier Frontstädte – doch der russische Würgegriff scheint enger zu werden. Berichte von Soldaten vor Ort deuten auf eine dramatische Lage hin.
Stand:
Um die benachbarten ukrainischen Frontstädte Pokrowsk und Myrnohrad im Osten der Ukraine toben zwei Schlachten auf einmal: einerseits ein zunehmend heftiger Kampf mit Gewehren und Drohnen, andererseits ein Propagandakrieg. So gestand der ukrainische Generalstab zwar eine schwierige Lage in Pokrowsk ein, widersprach aber der russischen Darstellung von einer eingekreisten Stadt. Das russische Verteidigungsministerium hingegen rief die ukrainischen Truppen in Pokrowsk bereits zur Kapitulation auf.
Auch wenn es aus der Distanz unmöglich ist, die tatsächliche Lage an diesen Abschnitten der Front detailliert zu bewerten, sind zwei Dinge klar. Erstens messen sowohl der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, als auch der russische Machthaber Wladimir Putin den kleinen Frontstädten eine große Bedeutung zu. Selenskyj jedenfalls machte gerade erst einen Frontbesuch in der Nähe von Pokrowsk, Putins Generäle wiederum haben in diesem Abschnitt der Front „ihre Hauptangriffstruppe konzentriert“, wie es Selenskyj formulierte.
Zweitens erscheint eine Einkreisung zumindest als Möglichkeit der nahen Zukunft, wie beim Blick auf die Kriegskarte deutlich wird:
Soldaten beschreiben dramatische Lage
Mehrere Soldatenberichte deuten ebenfalls darauf hin, dass die ukrainischen Kräfte in Pokrowsk und Myrnohrad in einer prekären Situation sind, die in einer Umzingelung und dem Fall beider Städte resultieren könnte. Das ukrainische Medium „Hromadske“ hat mit mehreren betroffenen Soldaten gesprochen. Am drastischsten formulierte es ein Drohnenpilot, der im Text Valeriy genannt wird: „Pokrowsk und Myrnohrad sind schon verloren“, sagte er demnach. Im Original: „Pokrovsk and Myrnohrad are already f***ed, in short“. Seine Einheit habe sich in Pokrowsk zuletzt dreimal zurückziehen müssen, weil die russischen Soldaten schnell durch die Stadt vorgerückt seien.
Auch von offizieller Stelle wird eingestanden, dass russische Soldaten in die Stadt eingedrungen sind. Haben sie Teile von Pokrowsk unter ihrer Kontrolle? Ein hochrangiger Offizier hat dazu eine klare Meinung: „Die Russen kontrollieren ungefähr 60 Prozent der Stadt“, sagte er „Hromadske“. Feindliche Truppen seien auch in die benachbarten Städten Myrnohrad und Rodynske eingedrungen, die Situation sei darum „sch****“.
Drohnenpiloten müssen sich plötzlich wie Infanteristen verteidigen
In Pokrowsk gelinge es russischen Truppen immer wieder, hinter die ukrainischen Infanteriestellungen zu schleichen und damit die Drohnenpiloten in Gefahr zu bringen, berichtet „Hromadske“ unter Berufung auf mehrere Quellen. Daher hätten sich ukrainische Drohnenpiloten bereits mit klassischen Waffen gegen die Angreifer verteidigen müssen, obwohl sie normalerweise nur hinter ihren Monitoren operieren.
Klar ist: Wenn Drohnenpiloten plötzlich selbst schießen oder ihre Positionen wechseln müssen, können sie die russischen Einheiten nicht aus der Luft bekämpfen. Gerade darauf aber ist die ukrainische Armee angewiesen, weil sie ihrem Gegner in Pokrowsk zahlenmäßig weit unterlegen ist. Auch das bezweifeln offizielle Stellen nicht.
Ein bei „Hromadske“ zitierter Kommandeur plädiert aufgrund der schwindenden Personalstärke und einem immer enger werdenden Nachschubweg – siehe Karte oben – dafür, bestimmte Gebiete preiszugeben. Aber auch die ganze Stadt? Es wäre ein Fehler, Pokrowsk jetzt aufzugeben, sagte ein anderer Soldat aus dem Hauptquartier einer Verteidigungsbrigade. Die Erwägung: In diesem Fall könnten sich russische Drohnenpiloten gut geschützt in der Stadt einrichten und ukrainische Soldaten bis auf eine Distanz von 30 Kilometern angreifen. Diese Gefahr sieht auch der österreichische Militärexperte Franz-Stefan Gady, der sich den Drohnenkrieg bereits aus der Nähe angesehen hat. „Eine unmittelbare taktische Auswirkung des Falls von Pokrowsk wäre die Ausweitung der Drohnen-gestützten Feuerkontrolle“, schrieb er auf Bluesky.
Pokrowsk und Myrnohrad teilen ihr Schicksal
Der Verlust von Pokrowsk hätte noch eine andere Konsequenz: Von dort aus verläuft eine Hauptstraße nach Myrnohrad. Die Kleinstadt wird ebenfalls von der russischen Armee attackiert. Über diese Route wird die Nachbarstadt mit Nachschub versorgt – zumindest derzeit noch.
Fiele Pokrowsk an die russische Armee, würde Myrnohrad vom Nachschub abgeschnitten werden. Umgekehrt wäre ein Fall von Myrnohrad auch schlecht für Pokrowsk, argumentierte eine Soldatin der 38. Marinebrigade im Gespräch mit „Hromadske“. Dann nämlich könnte Russland von dort aus seine Drohnen starten. „Wenn Pokrowsk fällt, gibt es kein Myrnohrad mehr. Wenn Myrnohrad fällt, gibt es kein Pokrowsk mehr“.
Kritiker halten die Aufgabe beider Städte für die bessere Lösung angesichts der drohenden Einkreisung durch russische Truppen. So könnten sich die ukrainischen Soldaten vor Tod oder Gefangennahme retten und auf die Verteidigungsposten weiter westlich zurückziehen, selbst wenn das bedeuten würde, Putin einen weiteren Erfolg zu ermöglichen. Selenskyj wird vorgeworfen, einen Rückzug ähnlich wie bei den schon vorher verlorenen Städten Bachmut (2023 gefallen) und Awdijiwka (2024 gefallen) aus politischen Gründen zu lange hinauszuzögern. Tatsächlich ist Prokrowsk inzwischen kein logistisches Drehkreuz mehr und hat damit eine wichtige militärische Funktion verloren. (mit dpa/Reuters/AFP)
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: