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Ukrainische Soldaten beim Einsatz an der Frontlinie in der Nähe der Stadt Bachmut.

© AFP/Aris Messinis

„Problem Nummer eins“: Das Wettrennen zwischen Kiew und Moskau um den Munitionsnachschub

Russland und die Ukraine leiden an Munitionsknappheit, beide müssen den Verbrauch rationieren. Die EU will Kiew nun mit einem Milliarden-Plan aushelfen. Kommt der rechtzeitig?

Die Schlacht um Bachmut ist nicht nur eine der härtesten und die längste bisher in diesem Krieg, sie ist auch die verlustreichste für beide Armeen. Das betrifft auch Gerät und Munition. Beide Seiten würden mittlerweile ihre Geschosse rationieren, berichten Beobachter von der Front.

In der Spitze verschossen die Russen 40.000 bis 50.000 Artilleriegeschosse täglich, während die Ukrainer 6000 bis 7000 Projektile pro Tag verbrauchten; weite Gebiete im Osten der Ukraine gleichen inzwischen Kraterlandschaften. Analysten schätzen, dass die russischen Streitkräfte derzeit noch etwa 10.000 Granaten pro Tag abfeuern, die ukrainischen etwa 3.000.

Und obwohl der Mangel an Munition beide Kriegsparteien trifft, wirkt sich die Rationierung vor allem für die Ukraine nachteilig aus. Vor allem die Überlegenheit der Russen bei der Artillerie sei für die jüngsten militärischen Erfolge Russlands in Bachmut verantwortlich, erklärte kürzlich das britische Verteidigungsministerium. Moskau setzt im Vergleich zu den Ukrainern in Bachmut das Siebenfache an Geschossen ein.

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Ausreichend Vorrat braucht die Ukraine auch, wenn sie eine Frühlingsoffensive starten will. „Fehlende Munition ist das Problem „Nummer eins“ klagte zuletzt der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Und sein Kollege im Verteidigungsministerium, Olexij Resnikow, legte der EU dazu eine konkrete Zahl vor: Sein Land brauche eine Million Geschosse im Wert von vier Milliarden Euro, um sich zu verteidigen. Besonders gefragt: 155-Millimeter-Artilleriegranaten, die helfen sollen, Gebiete zu halten und die Frühlings-Offensive zu starten.

Innerhalb der Europäischen Union gibt es deshalb Überlegungen, wie man der Munitionsknappheit der Ukrainer beikommt. Der EU-Chefdiplomat Josep Borrell legte jüngst Europas Verteidigungsministern eine Liste auf den Tisch, wie möglichst schnell reagiert werden kann.

Der Zwei-Milliarden-Euro-Plan

Wie das konkret aussehen kann, steht kommenden Montag auch auf der Tagesordnung der EU-Außenminister, ebenso beim Gipfeltreffen am Donnerstag. Dem Nachrichtenmagazin Politico zufolge liegt ein Zwei-Milliarden-Euro-Plan vor. Er skizziert, wie die schwindenden Munitionsvorräte der Ukraine aufgefüllt und die Bestände der Geber-Länder aufgestockt werden sollen. Durch einen gemeinsamen Beschaffungsplan sollen etwa größere Verträge zu einem niedrigeren Preis pro Patrone ausgehandelt werden, schreibt Politico.

Finanziert werden soll das Ganze mit der sogenannten europäischen Friedensfazilität, ein Instrument beziehungsweise Fonds, der außerhalb des normalen EU-Haushalts angesiedelt ist. Bisher wurde sie nur dazu verwendet, Ländern einen Teil ihrer Waffenspenden an die Ukraine zu erstatten. Vor dem Krieg wurde zum Beispiel militärische Ausbildung in ärmeren Ländern damit finanziert.

Aus den Dokumenten, die Politico vorliegen, geht hervor, dass die Länder weitere zwei Milliarden Euro in die Fazilität einzahlen würden – jeweils um Munition zu spenden und ihre eigenen Lager aufzustocken, um selbst nicht mit leeren Händen dazustehen.

Wie steht es um die Kapazitäten?

Das Problem scheint allerdings weniger die Finanzierung zu sein, denn die Kapazitäten: Europas Rüstungsindustrie ist auf Friedenszeiten eingestellt und nicht auf Kriegsproduktion. Pro Jahr werden etwa 300.000 Artilleriegeschosse vom Kaliber 155 Millimeter hergestellt. Die Ukraine verbraucht dies innerhalb von drei Monaten. Ihren jährlichen Bedarf an Artilleriemunition beziffert sie auf rund eine Million Schuss.

Mengen, die in Europa derzeit kaum lieferbar sind, erklärte jüngst Militärexperte Franz-Stefan Gady dem Tagesspiegel. Es gebe noch viel zu wenige mehrjährige Verträge mit einzelnen Herstellern, Rüstungsunternehmen und Munitionsproduzenten. „Wir brauchen Planungssicherheit“ ist dazu mantraartig aus der Industrie zu hören.

Armin Papperger, Chef von Deutschlands größtem Rüstungskonzern Rheinmetall, ließ jüngst wissen, dass sein Konzern im Stande wäre die Hälfte des ukrainischen Bedarfs zu decken. „Wir können von 300.000 auf 450.000 Schuss hochfahren“, zitiert ihn das ZDF.

In puncto Panzermunition liege die aktuelle Kapazität bei 240.000 Schuss pro Jahr. In einem Interview mit der NZZ weist er aber auch darauf hin, dass der Konzern noch andere Kunden bedienen müsse.

Papperger sagte der NZZ weiter, dass man sich derzeit in Verhandlungen um Rahmenverträge für die Bundeswehr befinde und auch sonst seine Fertigungskapazitäten ausbaue, etwa mit dem Kauf des spanischen Munitionshersteller Expal Systems. Zudem seien Werke in Ungarn und der Ukraine in Planung. Für eine ukrainische Fabrik brauche es aber die Entscheidung der Regierung in Kiew, erklärte Papperger. Die Regierung in Kiew müsste als Bauherr auftreten, das Geld für den Bau könne aus dem Ausland in Form von Hilfsleistungen kommen. Zwölf bis 14 Monate würde der Bau dauern. Zeit, die die Ukraine eigentlich nicht hat.

Das wissen auch die Diplomaten in Brüssel. Und um möglichst schnell Abhilfe zu schaffen, soll die Munitionsbeschaffung künftig von der Europäischen Verteidigungsagentur koordiniert werden. Dabei könnten auch einzelne Länder Verhandlungen anführen, solange das Land mit mindestens zwei anderen EU-Mitgliedern zusammenarbeitet und keine konkurrierenden Angebote für die Granaten abgibt, die Preise in die Höhe treiben, heißt es in dem Beschaffungsplan.

Moskaus Suche nach Munition

Während in Europa die Pläne zur raschen Hilfe der Ukraine konkretisiert werden, ist die Führung in Moskau ebenfalls auf der Suche nach Munition. Dabei dürfe Moskau keineswegs unterschätzt werden, mahnt EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer (Grüne). „Wir dürfen uns keine Illusionen darüber machen, dass Russland für seinen Aggressionskrieg noch erhebliche personelle und materielle Ressourcen mobilisieren kann“, sagt er dem Tagesspiegel.

Wladimir Putin habe mehrfach deutlich gemacht, dass er es durchaus auf einen langfristigen Krieg auf dem Boden der Ukraine ankommen lassen will, weil er bezweifelt, dass die ukrainische Opferbereitschaft und die transatlantische Solidarität stark genug sein werden, Russlands Angriff zu widerstehen, sagt er.

Europa müsse daher jetzt so schnell als möglich die Unterstützung verstärken. „Der Weg zum Frieden führt nur über ein Scheitern von Putins imperialistischer Ambition.“

Was über den Bestand und Beschaffungsplan Russlands bekannt ist: Die bisher geführten Kriege in Georgien und Syrien haben das Waffenarsenal dezimiert, gleichzeitig hat der Kreml viele Schlupflöcher gefunden, um sich trotz Sanktionen Ersatzteile zu beschaffen, etwa über Drittstaaten. So soll Nordkorea Aufträge zur Herstellung von Munition bekommen und bereits geliefert haben. Auch aus dem Iran wurden über das Kaspische Meer etwa 100 Millionen Kugeln und rund 300.000 Granaten geliefert.

Gleichzeitig versucht Moskau, die Produktion in den eigenen Fabriken hochzufahren. Wie russische Staatsmedien berichten, besuchte Verteidigungsminister Sergej Schoigu Mitte März die „Tactical Missiles Corporation“, eine russische Holdingsgesellschaft, außerhalb von Moskau, die Raketen entwickelt und produziert. Dort soll er russische Waffenhersteller angewiesen haben, ihre Produktion von präzisionsgelenkten Waffen zu verdoppeln.

Dass diese nicht schon seit Beginn des Angriffskriegs auch Hochtouren laufen, dürfte ein weiteres Indiz sein, dass sich Moskau anfangs verschätzt und mit einem Blitz-Feldzug gerechnet hat. In den ersten Monaten feuerten die russischen Streitkräfte Artillerie ab, als stünde diese unbegrenzt zur Verfügung. Fast ein Jahr später wird nun deutlich, dass man in einem Krieg gelandet ist, dessen Ende nach wie vor völlig offen ist.

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