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Zehntausende gehen seit Monaten immer wieder auf die Straße. Sie fürchten um Israels Demokratie.

© action press/ZUMA Press Wire / Zuma Press

Proteste gegen Israels Justizreform: „Was gerade im Land passiert, macht uns alle kaputt“

Zehntausende Demonstrierende protestieren erneut vor der Knesset gegen Israels geplante Justizreform. Das Verteidigungsministerium drängt auf eine Verschiebung der Abstimmung.

Von Steffi Hentschke

Jerusalem am Sonntagnachmittag: Bei 33 Grad Celcius sammeln sich Zehntausende Demonstrierende rings um die Knesset, Israels Parlament.

Dort wird bis Montagabend über einen Teil der umstrittenen Justizreform – und damit über die Zukunft des jüdischen Staates entschieden.

„Ich bin nicht sehr optisch, dass wir das Gesetz verhindern können“, sagt eine Frau um die 60, sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Der Kampf der Frauen für Freiheit. Uns kann nur noch ein Wunder helfen.

Netanjahu will seine Pläne nicht ändern

Die Regierungskoalition aus religiösen, rechtsnationalen und rechtsextremen Parteien will Israels Justizsystem umbauen und die Macht des Obersten Gerichts massiv einschränken. Im ersten Schritt soll dafür die sogenannte Angemessenheitsklausel abgeschafft werden.

70.000
Menschen nahmen am Samstag am Protestmarsch teil.

Diese gibt Israels Obersten Gerichts die Möglichkeit der Normenkontrolle von Gesetzen, wie sie in Deutschland das Verfassungsgericht in Karlsruhe durchführen kann.

Israel aber hat keine Verfassung und damit keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Fällt die Klausel, fehlt der Judikative die Möglichkeit, um gegen Gesetze Einspruch zu erheben, die nicht den „basic laws“, Israels Grundgesetzen, entsprechen. Die Gesetzesänderung ist bereits in einer ersten Knesset-Lesung sowie vom Justizausschuss bestätigt worden.

Diese Woche steht die zweite Lesung an, Anfang der nächsten Woche die dritte – und erst vergangenen Donnerstag machte Regierungschef Netanjahu in einer Fernsehansprache klar, dass sich seine Regierung nicht von den Gegnern der Reform von den Plänen abbringen lassen werde.

Kann den Demonstrierenden also wirklich nur noch ein Wunder helfen? In der heißesten Zeit des Jahres hatte der Kern der Demokratiebewegung Mitte vergangener Woche spontan einen mehrtägigen Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem organisiert.

Erst schlossen sich einige Hundert an, dann wurden es Tausende. Die Kibbutzim auf der Strecke versorgten die Massen mit Essen und Trinken, boten ihr Wiesen als Lager für die Zelte an.

Als der Tross am Samstag schließlich Jerusalem erreichte, waren es mehrere Zehntausend Menschen, die ihre Zeltlager in einem Park unterhalb der Knesset aufschlugen.

Schon jetzt ist diese Form des Protests historisch. Dazu kommt: Die Woche der Entscheidung über die umstrittene Reform fällt zusammen mit Tisha BʾAv, dem jüdischen Feiertag, an dem der Zerstörung der beiden Jerusalemer Tempel gedacht wird.

Verteidigungsminister fordert Verschiebung der Abstimmung

„Ich bin zwar nicht religiös, aber ich glaube auch nicht, dass das ein Zufall ist“, sagt ein Demonstrant. Er ist etwa 30 Jahre alt, trägt Sonnenhut auf dem Kopf. „Wir stehen hier gerade vor der Zerstörung des dritten Tempels, metaphorisch gesprochen.

Gut organisiert und motiviert wie eine Armee wirken die Demonstrierenden, an deren Spitze die Eliteeinheiten der IDF, der israelischen Streitkräfte stehen. Tausende Reservisten, unter anderem der Luftwaffe, wollen ihren Dienst verweigern, sollte die Reform nicht gestoppt werden.

Ohne den Reservisten der Luftwaffe aber der Schutz von Israels Landesgrenzen nicht garantiert werden. Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte deshalb am Wochenende an, sich für eine erneute Verschiebung der Abstimmung einsetzen zu wollen.

Ich bin nicht sehr optimistisch, dass wir das Gesetz verhindern können.

Demonstration vor der Knesset

Diese Karte hatte Gallant, der wie Netanjahu zur Likud-Partei gehört, bereits im März gespielt. Damals sollte erstmals ein Teil der Reform beschlossen werden. Netanjahu erklärte daraufhin, seinen Verteidigungsminister zu entlassen.

3
Lesungen müssen die Justizreform bestätigen.

Noch am selben Abend gingen deshalb Hunderttausende spontan auf die Straße. Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf – und keinen Tag später erklärte Netanjahu, die Reform verschieben zu wollen.

Gallant durfte bleiben und in den folgenden Monaten zeigte sich Netanjahu offen für einen Kompromiss. Anfang des Monats dann erklärte die Opposition die Gespräche für gescheitert.

Während am Sonntagnachmittag immer mehr Gegner der Reform eintreffen, sammeln sich nicht weit entfernt – wie schon im März – überwiegend Unterstützer der Regierung für eine Gegendemonstration.

Derweil erholt sich der 73 Jahre alte Netanjahu von einer Herzschrittmacher-OP. „Kein Wunder“, sagt eine Demonstrantin, die gegen die Reform protestiert. „Was gerade in Israel passiert, macht uns alle kaputt.

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