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„Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird der Rückzug“: Ukrainische Soldaten in Pokrowsk unter Druck – Russen dringen in Stadt ein
Demnächst könnte eine umkämpfte ukrainische Industriestadt an die russischen Besatzer fallen. Eine Eroberung würde aber vor allem der russischen Propaganda nützen.
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Tausende Soldaten sterben für die Eroberung einer Stadt im ostukrainischen Industriegebiet Donezk: So passierte es 2023 im – nahezu vollständig zerstörten – Bachmut, und so soll es sich bald in Pokrowsk wiederholen, wenn es nach der russischen Armeeführung geht. Es wäre seit zwei Jahren die größte Eroberung der im Osten langsam vorrückenden russischen Armee. Wie ist die Lage – und was versprechen sich die ukrainische und die russische Seite?
1. Die Lage in Pokrowsk: Russische Soldaten sind bereits in der Stadt
Seit mehr als einem Jahr wird schon um diese Stadt gekämpft, die ungefähr eine Autostunde südwestlich von Bachmut liegt. Ukrainische wie russische Militärblogger berichten übereinstimmend, dass immer mehr russische Soldaten von Süden in das Zentrum der Bergbaustadt eindringen.
Die Russen lieferten sich Straßenkämpfe mit ukrainischen Truppen und bekämpften mit Drohnen und Mörsern deren Nachschubwege, schrieb der militärnahe ukrainische Blog „DeepState“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von heftigen Gefechten und einer prekären Lage: Achtmal höher sei die Zahl der Angreifer im Vergleich zu den Verteidigern.
Das US-amerikanische Institut für Kriegsstudien (ISW) sieht in seinem aktuellsten Lagebericht zwar keine unmittelbar bevorstehende Niederlage. Trotzdem steht wieder die Möglichkeit im Raum, dass Pokrowsk demnächst fällt. Schon jetzt seien die verbliebenen Zivilisten in Gefahr, da Russland alle Ausgangswege unter Beschuss genommen habe.

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2. Warum die Ukraine Pokrowsk noch halten will
Auch Militärexperte Gustav Gressel sieht eine kritische Situation der ukrainischen Soldaten vor Ort. Schon lange binde der Frontbogen, der die Stadt umspannt, erhebliche Kräfte, wie Gressel dem Tagesspiegel sagte. Der Personalbestand der Armee sinke dadurch weiter – einer Truppe wohlgemerkt, die ohnehin Mangel an Soldaten hat.
Damit erscheint die Verteidigung von Pokrowsk zunehmend sinnlos, zumal die Stadt offenbar auch kein Knotenpunkt mehr für den Transport von Nachschub an die südöstliche Front ist. Die entsprechenden Abschnitte seien nämlich inzwischen in russischer Hand – und selbst in ihrer Funktion als Festungsstadt sei Pokrowsk nicht mehr so wichtig wie früher, sagte Gressel bereits im Sommer im „ZDF“. Längst habe die Ukraine im Gebiet dahinter Verteidigungsstellungen mit Gräben und Minen errichtet, auf die man sich nach dem Fall von Pokrowsk zurückziehen könnte.
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Experten der finnischen Analysefirma Black Bird Group kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Zwar würde Russland mit der Eroberung von Pokrowsk seinerseits eine „wichtige Kreuzungsstadt gewinnen“, aber trotzdem wäre es besser gewesen, wenn die Ukraine die Stadt bereits im Sommer aufgegeben hätte. „Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird der Rückzug“, heißt es.
Warum also hält die ukrainische Führung trotzdem an Pokrowsk fest? Gressel sieht mehr politische als militärische Gründe für diese Entscheidung: Selenskyj „fürchtet den moralischen Schaden“ bei einer Aufgabe der Stadt.
3. Putin braucht Pokrowsk für seine Propaganda
Umgekehrt weiß auch der Kreml um die symbolische Bedeutung der umkämpften Frontstadt. Armeechef Waleri Gerassimow meldete dem russischen Machthaber Wladimir Putin am Sonntag die Einkesselung von mehr als 5000 ukrainischen Soldaten, berichtete die „Washington Post“. Das ISW fand für diese Behauptung jedoch keine Belege. Daher drängt sich der Eindruck auf, dass Putin mal wieder genau das zu hören bekam, was er gerne hören will.
Der Kreml führt auch einen Krieg der Worte
„Die Behauptungen Putins und Gerassimows über Siege auf dem Schlachtfeld sind Teil der anhaltenden kognitiven Kriegsführung des Kremls, mit der fälschlicherweise ein Sieg Russlands als unvermeidlich dargestellt werden soll, damit die Ukraine und der Westen den Forderungen Russlands nachgeben“, schrieb das US-Institut für Kriegsstudien in einem Lagebericht vom 26. Oktober.
Damit verbindet sich das Schicksal der Zivilisten und Soldaten in Pokrowsk mit der politischen Weltbühne. Dort versucht US-Präsident Donald Trump seit Februar erfolglos, Putin durch Gespräche – und mittlerweile auch durch neue Sanktionen – zu einem Waffenstillstand oder gar Frieden zu bewegen. Putin antwortet mit unverminderten Attacken auf dem Schlachtfeld und auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Auch Propaganda in den Medien gehört zu seiner Angriffsstrategie. Hier ist jede Erfolgsmeldung eine rhetorische Waffe – und in diesem Sinne würde die Eroberung von Pokrowsk einschlagen wie eine Rakete. (mit dpa)
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