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Jean-Luc Melenchon von den Linken.

© AFP/SAMEER AL-DOUMY

Update

Premierminister kündigt Rücktritt an: Linkes Bündnis bei Parlamentswahl in Frankreich überraschend vorn

Bei der Parlamentswahl in Frankreich hat die vereinigte Linke voraussichtlich den Sieg eingefahren. Der RN von Le Pen ist überraschend wohl nur drittstärkste Kraft. Premierminister Attal will am Montag zurücktreten.

Stand:

Bei der Parlamentswahl in Frankreich liegt ersten Hochrechnungen zufolge das Linksbündnis überraschend vorn. Der rechtsnationale Rassemblement National könnte demnach nur auf dem dritten Platz hinter dem Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron landen, wie die Sender TF1 und France 2 nach Schließung der Wahllokale berichteten. 

Die neue Volksfront kann demnach mit 172 bis 215 Sitzen im 577 Mandate umfassenden Parlament rechnen. Das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron dürfte auf 150 bis 180 kommen. Der rechte Rassemblement National (RN), der in der ersten Wahlrunde triumphiert hatte, kommt nur auf 115 bis 155 Mandate. Die absolute Mehrheit von 289 Sitzen dürfte keines der Lager erreichen.

Frankreichs Premierminister Gabriel Attal hat nach der Wahlschlappe des Regierungslagers bei der Parlamentswahl seinen Rücktritt angekündigt. „Gemäß der republikanischen Tradition und meinen Prinzipien entsprechend reiche ich morgen meinen Rücktritt beim Präsidenten ein“, sagte er am Sonntag in Paris. Es steht dem Präsidenten offen, den Rücktritt anzunehmen oder nicht. 

Angesichts der ersten Hochrechnungen hat das Linksbündnis bereits Anspruch auf die Regierungsbildung erhoben. „Die Neue Volksfront ist bereit zum Regieren“, sagte der frühere Parteichef der linkspopulistischen Partei La France Insoumise (LFI), Jean-Luc Mélenchon, am Sonntag in Paris. Er forderte den Rücktritt von Premierminister Gabriel Attal. „Wir haben gewonnen“, skandierten die Unterstützer des Linksbündnisses.

Auch Frankreichs Grüne wollen nach dem voraussichtlichen Wahlsieg des neuen Linksbündnisses regieren. „Wir haben gewonnen und jetzt werden wir regieren“, sagte Grünen-Generalsekretärin Marine Tondelier in Paris. „Heute Abend hat die soziale Gerechtigkeit gewonnen, heute Abend hat die ökologische Gerechtigkeit gewonnen und heute Abend hat das Volk gewonnen und jetzt geht es erst los.“ 

Bardella spricht von „Bündnis der Schande“

Der rechtspopulistische Parteichef Jordan Bardella hat ein „Bündnis der Schande“ gegen den Rassemblement National (RN) angeprangert. „Das Bündnis der Schande und die Wahlabsprachen, die (Präsident Emmanuel) Macron mit linksradikalen Gruppen getroffen hat, berauben die Franzosen heute Abend einer Politik des Aufschwungs, die sie mit großer Mehrheit befürwortet hatten“, sagte Bardella mit Blick auf den taktischen Rückzug zahlreicher Kandidaten in der Stichwahl am Sonntag in Vincennes bei Paris.

Angesichts der Prognosen hat die Rechtspopulistin Marine Le Pen von einem „aufgeschobenen“ Sieg ihrer Partei Rassemblement National gesprochen. „Die Flut steigt. Sie ist dieses Mal nicht hoch genug gestiegen, aber sie steigt weiter und deshalb ist unser Sieg nur aufgeschoben“, sagte Le Pen im Fernsehsender TF1.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat angesichts der ersten Prognosen nach der zweiten Runde der Parlamentswahl zur Zurückhaltung bei deren Interpretation aufgerufen. „Die Frage ist, wer regieren und wer eine Mehrheit bilden kann“, hieß es am Sonntag im Elysée. 

Das Ergebnis ist eine große Überraschung. In den letzten Umfragen vor der Wahl hatte der Rassemblement National (RN) von der Fraktionsvorsitzenden Marine Le Pen und Parteichef Jordan Bardella noch vorn gelegen.

Ausschreitungen in Paris und anderen Städten

Bei Kundgebungen nach der Parlamentswahl in Frankreich ist es in Paris und anderen Städten zu schweren Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Demonstranten gerieten mit den Ordnungskräften aneinander, die daraufhin Tränengas einsetzen. Barrikaden aus Holz wurden in Brand gesetzt.

Im Zentrum von Paris hatten etliche Geschäfte und Banken ihre Fenster am Wahltag mit Blick auf befürchtete Ausschreitungen mit Holzplatten gesichert. Innenminister Gérald Darmanin hatte für den Wahltag 30.000 Beamte mobilisiert, um mögliche Krawalle zu verhindern. Im westfranzösischen Rennes gab es nach Medienberichten 25 Festnahmen. In Nantes wurde ein Polizist nach einem Bericht der örtlichen Zeitung durch den Wurf eines Molotowcocktails verletzt.

Linke mit Zweckallianz ohne Führung und Programm

Linke und Macrons Mitte-Kräfte hatten vor der zweiten Wahlrunde eine Zweckallianz gebildet. Um sich in Wahlkreisen, in denen drei Kandidaten in die zweite Runde kamen, nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN so lokal zum Sieg zu verhelfen, zogen sich etliche Kandidaten der Linken und der Liberalen zurück. Ihre Wählerschaft riefen sie dazu auf, in jedem Fall gegen das RN zu stimmen.

Frankreichs gespaltene Linke hatte sich erst vor wenigen Wochen für die Parlamentswahl zum Nouveau Front Populaire zusammengeschlossen. Bei der Europawahl waren die Parteien noch einzeln angetreten. Streit gibt es innerhalb der Linken vor allem über die altlinke Führungsikone Jean-Luc Mélenchon. Der Populist, der mit euroskeptischen Aussagen auffällt und einen klar propalästinensischen Kurs fährt, wird selbst innerhalb seiner Partei heftig kritisiert.

Eine klare Führung hat das Bündnis aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und Grünen nicht. Auch ein gemeinsames Programm gibt es nicht.

Völlig unklare politische Zukunft

Wie es weitergeht, ist nun vorerst unklar. Mit dem Ergebnis ergeben sich verschiedene Zukunftsszenarien. Die Linken könnten versuchen, von den Mitte-Kräften Unterstützung zu bekommen - entweder als eine Minderheitsregierung mit Duldung oder in einer Art Großen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen politischen Ausrichtungen ist allerdings nicht abzusehen, ob dies gelingen könnte.

Unklar ist, ob Staatschef Macron in einem solchen Szenario politisch gezwungen wäre, einen Premier aus den Reihen der Linken zu ernennen. Die Nationalversammlung kann die Regierung stürzen.

Sozialisten-Chef Olivier Faure sprach sich bereits ausdrücklich gegen eine mögliche „Koalition“ mit dem Regierungslager aus. „Die Neue Volksfront muss diese neue Seite unserer Geschichte in die Hand nehmen“, sagte Faure. Das Bündnis habe eine „immense Verantwortung“. Faure betonte, dass die Rentenreform, die das Rentenalter auf 64 Jahre angehoben hatte, abgeschafft werden solle. „Es ist an der Zeit, die Superreichen und die Supergewinne zu besteuern“, erklärte er.

Bei einem Premier aus dem linken Lager müsste Macron die Macht teilen. Der Premier würde wichtiger. Klar scheint aber, dass Macron selbst in einer Koalition mit den Linken nicht ungehindert seinen Kurs fortfahren könnte, sondern gezwungen wäre, etliche Kompromisse einzugehen.

Der führende Sozialdemokrat Raphaël Glucksmann, der bei der Europawahl Spitzenkandidat der französischen Sozialisten war, sagte, es könne künftig Mehrheiten für einzelne Vorhaben geben. Für Macrons Kräfte hatte sich diese Strategie in den vergangenen zwei Jahren als schwierig erwiesen.

Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle Regierung als Übergangsregierung im Amt bleiben oder eine Expertenregierung eingesetzt werden. Frankreich droht in einem solchen Szenario politischer Stillstand. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und Neuwahlen sind erst im Juli 2025 wieder möglich.

Für Deutschland und Europa hieße das, dass Paris als wichtiger Akteur in Europa und als Teil des deutsch-französischen Tandems nicht mehr tatkräftig zur Verfügung stehen würde. Statt neuer Initiativen stünde in Frankreich Verwaltung an der Tagesordnung. Das Amt von Staatschef Macron bleibt von der Wahl zwar unangetastet, doch ohne handlungsfähige Regierung könnte auch er seine Projekte nicht durchsetzen.

Zweifel am Wandel von Le Pens Partei

Brüssel und Berlin dürften von dem Wahlausgang erleichtert sein. Zwar können die Rechtsnationalen ihre Fraktion in der Nationalversammlung ausbauen. Eine Regierung scheint für sie aber quasi unmöglich. Diese wäre wohl das Schreckszenario für Deutschland und die Europäische Union gewesen. Das RN hält im Gegensatz zu Macron wenig auf die seit Jahrzehnten enge Zusammenarbeit mit Berlin. Die europaskeptischen Nationalisten streben zudem danach, den Einfluss der Europäischen Union in Frankreich einzudämmen.

Der Vorsitzende der rechtsradikalen Nationalen Sammlungsbewegung (RN) Jordan Bardella (r) verlässt mit der Parteivorsitzenden Marine Le Pen nach einer Pressekonferenz das Gebäude.

© dpa/Christophe Ena

Mit einer RN-Regierung wäre Frankreich politisch massiv nach rechts gerückt. Erstmals seit dem mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Vichy-Regime wären wieder Rechtsaußen-Kräfte an die Macht gekommen.

Den Rechtsnationalen wurde das Zweckbündnis der linken und liberalen Kräfte für die zweite Wahlrunde zum großen Nachteil. Auch dürfte die Angst vor einer rechtsnationalen Regierung viele Menschen an die Wahlurne getrieben haben.

Etliche Kandidatinnen und Kandidaten des RN waren zudem wegen angeblicher rechtsextremer oder antisemitischer Aussagen in der Vergangenheit ins Gerede gekommen. Somit ergaben sich in der Öffentlichkeit Zweifel an der von Marine Le Pen betriebenen „Entteufelung“ der Partei. Mit diesem Kurs versucht Le Pen seit Jahren, ihre Partei gemäßigter erscheinen zu lassen und bis in die bürgerliche Mitte hinein wählbar zu machen.

Linkes Lager profitiert von Einigkeit und Angst vor rechts

Die Linken profitierten von ihrem im Eiltempo gebildeten Bündnis. Auch dass sie die Führungsfrage offen ließen, dürfte ihnen geholfen haben, diejenigen Wähler hinter sich zu vereinen, die ein Problem mit dem Linkspopulisten Mélenchon haben.

Außerdem dürften die Linken wegen der Verunsicherung und Angst vor einem historischen Rechtsruck in Frankreich und einer rechtsnationalen Regierung deutlich mehr Zuspruch bekommen haben.

Macron kommt besser weg als erwartet

Für den unpopulären Macron ist das Ergebnis überraschend weniger vernichtend als erwartet. Macron scheiterte zwar mit dem Versuch, die relative Mehrheit seiner Mitte-Kräfte mit den Neuwahlen auszubauen. Immerhin könnte seine Fraktion aber noch vor Le Pens Rechtsnationalen zweite Kraft werden und mit den Linken in Regierungsverantwortung sein.

Emmanuel Macron bei der Stimmabgabe.

© IMAGO/ABACAPRESS/IMAGO/Blondet Eliot/ABACA

Noch in der ersten Wahlrunde war Macron und seinen Anhängern die Einigkeit des linken Lagers zum Verhängnis geworden. Die Auflösung der Nationalversammlung wurde von vielen als unverantwortlich gewertet. Auch dies lasteten Französinnen und Franzosen Macron an.

Am Nachmittag hatte sich die höchste Wahlbeteiligung seit über vier Jahrzehnten abgezeichnet. Um 17.00 Uhr lag die Wahlbeteiligung bei der zweiten Runde der Parlamentswahl bei 59,71 Prozent, wie das Innenministerium am Sonntag in Paris mitteilte. Dies ist die höchste Wahlbeteiligung seit der Parlamentswahl von 1981, die auf die Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum Präsidenten folgte.

Le-Pen-Partei lag im ersten Wahlgang vorn

Da in der ersten Runde am 30. Juni bereits 76 Mandate vergeben wurden, waren nur die Wähler der verbleibenden 501 Wahlkreise aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Alle Kandidaten, die in der ersten Runde die Stimmen von mindestens 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler bekommen haben, durften an der Stichwahl teilnehmen.

Der RN und seine Verbündeten hatten in der ersten Wahlrunde 33 Prozent der Stimmen geholt. Das links-grüne Wahlbündnis Neue Volksfront lag mit 28 Prozent auf dem zweiten Platz, gefolgt vom Regierungslager. (Reuters, dpa, AFP)

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