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Trudeau regiert Kanada seit 2015.

© dpa/Adrian Wyld

Update

Schwere Regierungskrise in Kanada: Justin Trudeau kündigt Rücktritt als Premierminister und Parteichef an

Seit Wochen wächst der Druck auf den „Kennedy Kanadas“. Jetzt hat sich der zunehmend unpopuläre Politiker entschieden.

Stand:

Am Ende war der Druck zu groß: Der kanadische Regierungschef Justin Trudeau hat seinen Rücktritt angekündigt. „Ich beabsichtige, als Parteivorsitzender und als Premierminister zurückzutreten, wenn die Partei einen neuen Chef ernannt hat“, sagte der 53-Jährige am Montag vor Journalisten in Ottawa. 

„Dieses Land verdient eine echte Auswahl bei der nächsten Wahl und mir ist klargeworden, dass ich nicht die beste Alternative bei dieser Wahl sein kann, wenn ich interne Kämpfe ausfechten muss“, so Trudeau in seiner Erklärung.

Damit endet die gut neunjährige Amtszeit Trudeaus früher als geplant. Eigentlich sind die nächsten kanadischen Wahlen auf Bundesebene für Herbst 2025 geplant. Der Rücktritt Trudeaus vor Ende seiner Amtszeit dürfte nun jedoch zu vorgezogenen Neuwahlen führen.

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Als Hintergrund für Trudeaus Schritt nannten Experten den wachsenden Widerstand gegen ihn in seiner eigenen Fraktion sowie Meinungsumfragen, denen zufolge seine Partei bei der nächsten Wahl voraussichtlich den Konservativen mit ihrem Parteichef Pierre Poilievre unterliegt. In aktuellen Befragungen liegen Trudeau und die Liberalen, die progressive Gesellschaftspolitik mit liberaler Wirtschaftspolitik verbinden, mehr als 20 Prozentpunkte hinter ihren Herausforderern.

Justin Trudeau und Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Regierungstreffen 2022 in Ottawa.

© AFP/DAVE CHAN

Kanadische Meinungsforschungsinstitute sehen unter anderem Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage des Landes als Grund für die in den vergangenen Jahren drastisch gesunkene Popularität von Trudeau bei den Wählerinnen und Wählern. Viele sind aber auch schlicht mit dem persönlichen Auftreten des Premiers unzufrieden, dem zunehmend vorgeworfen wird, abgehoben zu agieren und das Gefühl für die Nöte und Sorgen der Bevölkerung vermissen zu lassen.

Nach Einschätzung von Daniel Rubenson von der Toronto Metropolitan University kommen mehrere Faktoren zusammen, die zur aktuellen kanadischen Regierungskrise geführt haben. „Zum einen haben die Leute Trudeau nach mehr als neun Jahren einfach satt“, sagt der Politikwissenschaftler, der unter anderem Experte für kanadische Politik und Wahlforschung ist, im Gespräch mit dem Tagesspiegel..

Dazu kämen aktuelle Herausforderungen, auf die die Trudeau-Regierung aus Sicht vieler Menschen keine befriedigenden Lösungen präsentiert habe. Das betreffe neben der Inflation und den hohen Wohn- und Lebenshaltungskosten auch ein Thema, das in vielen anderen Ländern wie Deutschland ebenfalls die Menschen bewege: Die als unzureichend empfundene Integration von Flüchtlingen, zuletzt vor allem aus der Ukraine, sowie anderen Menschen aus fernen Weltregionen.

„Trudeau hatte für viele Probleme keine Antworten“, sagt Rubenson. Zudem wurde er in der Öffentlichkeit zunehmend als arrogant und überheblich wahrgenommen.

Dringlichkeitssitzung am Mittwoch

Eine von der kanadischen Tageszeitung „The Globe and Mail“ befragte Person aus Trudeaus Umfeld sagte, dass der Premierminister erkannt habe, dass er eine Erklärung abgeben muss, bevor er sich am Mittwoch in einer Dringlichkeitssitzung mit der liberalen Fraktion trifft, „damit es nicht so aussieht, als wäre er von seinen eigenen Abgeordneten zum Rücktritt gezwungen worden“.

Der nationale Vorstand der Liberalen Partei, der über Führungsfragen entscheidet, plant nach Angaben der Zeitung, sich diese Woche zu treffen, wahrscheinlich nach der Fraktionssitzung.

Mit Angela Merkel – hier auf einem Bild von 2017 – verband Trudeau eine gegenseitige Sympathie, mit Donald Trump eine gegenseitige Antipathie.

© picture alliance / Michael Kappeler/dpa-Pool/dpa/Michael Kappeler

Der Widerstand gegen den auch international wegen seiner smarten Art und seines jugendlich wirkenden Auftretens einst als „Kennedy Kanadas“ gefeierten Politiker in den Reihen seiner eigenen Partei war in den vergangenen Wochen massiv gewachsen. Der vorläufige Höhepunkt war der Rücktritt von Finanzministerin und Trudeau-Stellvertreterin Chrystia Freeland am 16. Dezember.

Gimmicks.

Ex-Finanzministerin und Trudeau-Stellvertreterin Chrystia Freeland über geplante finanzielle Erleichterungen des Premierministers für kanadische Bürger.

Sie kündigte ihren Job ausgerechnet an dem Tag, an dem sie einen Plan zur Wirtschafts- und Finanzpolitik vorlegen sollte. Als Grund für ihren Rücktritt nannte sie wachsende Spannungen zwischen ihr und Trudeau über den finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs ihres Landes. Auch kritisierte sie, dass Trudeau bei geplanten Steuer- und Ausgabenerleichterungen, die sie als „Gimmicks“ bezeichnete, nicht auf Fachleute wie sie gehört habe, die diese Pläne ablehnten.

Zudem warf sie ihm einen Mangel an Ernsthaftigkeit im Umgang mit möglichen Zöllen vor, die der designierte US-Präsident Trump im Außenhandel mit Kanada nach seiner Amtseinführung am 20. Januar einführen will.

Mögliche Nachfolger im Gespräch

Schon seit Wochen wird in der Liberalen Partei Kanadas darüber spekuliert, wer im Falle eines Rücktritts als Trudeau-Nachfolger infrage kommt. Im Gespräch sind aktuell mehrere Namen, darunter auch Chrystia Freeland. Als möglicher Kandidat gilt zudem der neue Finanzminister und Trudeau-Vertraute Dominik LeBlanc. Genannt werden auch Außenministerin Mélanie Joly und Industrieminister Francois Philippe Champagne sowie als möglicher Bewerber von außen der ehemalige Gouverneur der kanadischen sowie der englischen Notenbank, Mark Carney.

In den vergangenen Wochen hatten liberale Amtsträger zunehmend deutlich gemacht: Die Zeit drängt. Die drei Oppositionsparteien, die zusammen die Mehrheit im Parlament haben, wollen Trudeau nach der Rückkehr des Parlaments aus der Winterpause Ende Januar das Vertrauen entziehen und ihn stürzen.

Die Konservativen werde ab Ende März versuchen, ein Misstrauensvotum gegen Trudeau oder seinen Nachfolger anzustreben.

Politikwissenschaftlerin Laura Stephenson

Es gehe darum, „unsere Partei vor einer historischen Niederlage zu bewahren“, die eine Wahl im Februar vermutlich bringen würde, hatte dieser Tage der liberale Abgeordnete Wayne Long aus New Brunswick seinen liberalen Parlamentskolleginnen und -kollegen geschrieben. „Die Zeit für Loyalität zu allen Kosten ist vorbei.“ Der Premierminister müsse beiseitetreten und einen Führungswechsel ermöglichen, schrieb Long, der zu denen gehört, die seit Oktober Trudeau öffentlich zum Rücktritt aufgefordert haben.

Ob und wann es nun Neuwahlen gibt, hängt nun vor allem an den beiden wichtigsten Oppositionsparteien des Landes ab, wie Politikwissenschaftlerin Laura Stephenson von der Western University in London, Ontario, im Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärt. „Die Konservativen werde ab Ende März versuchen, ein Misstrauensvotum gegen Trudeau oder seinen Nachfolger anzustreben.“

Dann sei entscheidend, wie die sozialdemokratische Partei NDP agiere, die links von Trudeaus Liberalen steht. Die NDP habe zwar angekündigt, ein Misstrauensvotum zu unterstützen, aber ganz sicher sei das nicht.

Seine Rhetorik spricht eher weit rechts stehende Wähler an.

Politikwissenschaftler Daniel Rubenson über den Parteichef der kanadischen Konservativen, Pierre Poilievre 

Sollten bei einer möglicherweise vorgezogenen Neuwahl die Konservativen die neue Regierung in Ottawa stellen, ist aus Sicht von Beobachtern besonders interessant, inwieweit deren Parteichef Pierre Poilievre den Spagat zwischen Populismus und verantwortungsvollem Regierungshandeln schafft. „Seine Rhetorik spricht eher weit rechts stehende Wähler an“, sagt Politikwissenschaftler Rubenson. „Er ist ein sehr talentierter Wahlkämpfer“.

Ob Poilievre in einer künftigen Regierung moderater agieren werde, müsse sich zeigen. „Generell wird es einen Rechtsruck geben, der aber im Vergleich zu anderen Ländern eher moderat ausfallen wird“, vermutet Rubenson. Zwar passe die Entwicklung in Kanada zum international zu beobachtenden Aufschwung populistischer Parteien, den man auch in Deutschland erlebe. Ein Markenzeichen kanadischer Politik sei aber, dass diese Entwicklungen hier gemäßigter verliefen als anderswo: „Die Politik findet in Kanada immer in der politischen Mitte statt.“

Sie werden die umstrittene CO₂-Steuer abschaffen, generell Steuern und Ausgaben senken und zudem die Zuschüsse für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk reduzieren.

Politikwissenschaftlerin Laura Stephenson über zu erwartende Änderungen der kanadischen Regierungspolitik nach einem Sieg der Konservativen

Politikwissenschaftlerin Stephenson erwartet von einer möglichen konservativen Regierung vor allem innenpolitische Veränderungen in drei Bereichen: „Sie werden die umstrittene CO₂-Steuer abschaffen, generell Steuern und Ausgaben senken und zudem die Zuschüsse für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk reduzieren.“

Justin Trudeau 2022 beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und dessen Frau Britta Ernst.

© dpa/Philipp von Ditfurth

Kanadas Regierungskrise gewinnt aktuell auch dadurch an Bedeutung, dass sich in den USA eine neue Administration bildet, die es auf Konfrontation anlegt und nach Einschätzung von Beobachtern Schwächen von Nachbarn ausnützen wird. Insbesondere die Drohung des künftigen Präsidenten Donald Trump, Importe aus Kanada mit 25-prozentigen Zöllen zu belegen, wird als Gefahr gesehen.

Kanada könnte „Instabilität entgegensehen, insbesondere durch die ökonomische Bedrohung durch die potenziellen 25-prozentigen US-Zölle“, schrieb kürzlich der Vorsitzende der liberalen Parlamentariergruppe der vier Atlantikprovinzen, Kody Blois, in einem Brief, in dem er Trudeau im Namen der Abgeordneten zum Amtsverzicht aufrief.

Es gibt ein Vakuum und ein Chaos im Zentrum.

Matthew Holmes, kanadische Handelskammer 

So sehen es offensichtlich auch Wirtschaftsverbände. Matthew Holmes von der kanadischen Handelskammer stellt zu den Vorgängen in Ottawa fest: „Es gibt ein Vakuum und ein Chaos im Zentrum.“ Die Zeit, die die Liberalen für Führungsdebatten verwenden, sollte genutzt werden, um Trumps Zolldrohungen zu kontern. „Wir brauchen klare Aktionen der Regierung und die Wirtschaft braucht Sicherheit.“

Sollte Kanada künftig von dem Konservativen Poilievre regiert werden, wäre zwar einerseits jemand in Ottawa an der Macht, den mit Trump eine gute Beziehung und manche politische Übereinstimmung verbinde, sagt Politikwissenschaftler Rubenson. Andererseits könnten sich die EU und Deutschland darauf verlassen, dass Ottawa in den internationalen Beziehungen nicht ganz auf Trumps aggressive Linie einschwenke. „Poilievre würde wichtige Handelspartner wie die EU und Deutschland nicht verprellen“, sagt der Politologe.

Kanada bleibt ein enger Verbündeter der EU und Deutschlands.

Politikwissenschaftler Daniel Rubenson

Bei Fragen der internationalen Sicherheit könnte Poilievre zwar kämpferischer als Trudeau agieren und zum Beispiel darauf drängen, dass anderen Nato-Staaten ihre Verteidigungsausgaben erhöhen. „Insgesamt bleibt Kanada aber ein enger Verbündeter der EU und Deutschlands“, sagt Rubenson. Gerade angesichts des drohenden Zollstreits mit den USA wäre es nicht im Interesse seines Landes, es sich mit wichtigen internationalen Partnern zu verderben.

Das sieht seine Kollegin Laura Stephenson ähnlich: „Außenpolitisch wird es keine dramatischen Änderungen in den Beziehungen zu Kanadas wichtigsten Partnern geben, Poilievre will hier keine Unruhe stiften.“

Bisher hat Trudeau seine Partei vertröstet, aber zu verstehen gegeben, dass er in der Weihnachtspause nachdenken werde. Diese Zeit ist nun abgelaufen. Die Partei will, dass sich Trudeau erklärt. Die Hoffnung vieler Parlamentarier, die um ihren Sitz bangen müssen, ist, dass ein Führungswechsel zumindest die Niederlage in Grenzen hält, auch wenn eine völlige Trendwende ausgeschlossen scheint.

Ein erschreckendes Beispiel gibt es: 1993 war die konservative Partei, die in der Wahl fünf Jahre zuvor die absolute Mehrheit errungen hatte, auf zwei Sitze reduziert worden.

Der Regierungschef hat mehrere Optionen, aber die Zeit dafür ist knapp, da ihm das Misstrauensvotum Ende Januar droht. Bereits an diesem Dienstag soll in einem Ausschuss eine Vorabstimmung über ein Misstrauensvotum stattfinden.

Bei einem Rücktritt Trudeaus muss die Partei oder – als Interimlösung – die Fraktion entscheiden, wer Partei und Regierung führen soll. Dies könnte zu einem mehrwöchigen parteiinternen Wahlkampf führen. Trudeau könnte auch selbst die Initiative ergreifen und Parlamentswahlen ausrufen lassen und die direkte Konfrontation mit dem konservativen Chef Poilievre suchen.

Das kanadische Parlamentsrecht gibt Trudeau zudem ein Instrument zur Hand, um Zeit für sich und die Partei zu gewinnen: Mit einer sogenannten „Prorogation“ kann er das Parlament für eine begrenzte Zeit suspendieren. Dieser Schritt müsste allerdings von der Generalgouverneurin Mary Simon abgesegnet und verkündet werden.

Prorogation ist eine umstrittene Maßnahme, vor allem wenn sie darauf abzielt, für die Regierung unliebsame Parlamentsentscheidungen zu verhindern. Sollte das Parlament in diesen Zwangsurlaub geschickt werden, würde Trudeau für seine Partei Zeit gewinnen, einen neuen Partei- und Regierungschef zu finden.

Trudeau hatte 2015 mit seiner Partei die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament errungen und die Konservativen abgelöst, er konnte bei den darauffolgenden Wahlen aber keine eigenständige Mehrheit mehr erringen.

Seit 2019 regiert er mit einem Minderheitskabinett. Durch eine Verständigung mit der sozialdemokratischen NDP sicherte er sich seit 2021 die Macht. Aber die NDP kündigte dieses Abkommen im Spätsommer auf und ist nun nach langem Zögern und Taktieren bereit, Trudeau zu stürzen. Konservative und der Bloc Quebecois sind dazu ebenfalls entschlossen.

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