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Seit 540 Tagen in Hamas-Gefangenschaft: So kämpft ein Kibbuz um das Leben von Ziv und Gali
Am 7. Oktober 2023 wurden die Zwillinge Ziv und Gali Berman aus Kfar Aza verschleppt. Angehörige und Kibbuz-Mitglieder machen auf das Schicksal der Brüder aufmerksam. Die Hoffnung wollen sie nicht aufgeben.
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Ein Orangenbaum steht am Eingang zu dem kleinen Wohngebiet. Zwei Häuserreihen, die sich gegenüberliegen, werden von einem Rasenstreifen in der Mitte getrennt. Drumherum satt-grüne Bäume, direkt gegenüber eine Wiese. Es ist ein warmer Frühlingstag, keine Wolke am Himmel. Doch etwas trübt den Eindruck einer vermeintlichen Idylle im Kibbuz Kfar Aza, knapp zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt: Der Ort sieht aus wie ein Schlachtfeld.
Die Türen der Häuser sind eingeschlagen, Brandspuren überall an den Wänden. Stühle, Anziehsachen, Mülltüten, Sofas, Küchenutensilien – alles liegt am Boden. Vor den Häusern hängen Plakate, jeweils mit einem Foto der ehemaligen Bewohner. „…wurde in diesem Haus brutal ermordet“, steht hinter dem jeweiligen Namen.
Doch auf zwei Plakaten steht „Bring them home“. Darüber die Bilder der Zwillinge Ziv und Gali Berman. Am 7. Oktober 2023 wurden sie von der Hamas aus ihren Wohnungen in den Gazastreifen entführt. Bis heute werden sie dort festgehalten. Das Kibbuz und die Angehörigen kämpfen unermüdlich dafür, dass das Schicksal der beiden nicht in Vergessenheit gerät.
„Es sind enthusiastische Jungs“
Kfar Aza ist eines der Kibbuzim, das besonders hart von der Terrorattacke der Islamisten getroffen wurde. 855 Menschen lebten hier vor dem 7. Oktober, erzählt Chen Kotler. Sie selbst ist im Kibbuz aufgewachsen, ihre Tante und ihr Onkel gehörten zu dessen Gründern.
Zwei Tage dauerten die Kämpfe in dem kleinen Ort. 64 Menschen wurden von der Hamas getötet, 19 als Geiseln genommen. Gali und Ziv Berman sind immer noch in Gefangenschaft.
Seit dem Massaker ist Kotler die einzige in ihrer Nachbarschaft, die beiden Nachbarn wurden von der Hamas getötet. „Es ist sehr herausfordernd, man lebt an einem Ort ohne Leben“, sagt sie. Sie selbst betreute Gali und Ziv früher im Kindergarten als Erzieherin. „Es sind enthusiastische Jungs“, sagt sie.

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Bei einem Rundgang durch das Kibbuz berichtet Chen Kotler vom Tag, der den Ort für immer verändert hat. Sie selbst war am 7. Oktober gar nicht vor Ort, sondern in Portugal bei ihrer Schwester. Von dort aus hielt sie Kontakt zu ihrem Vater, versuchte alles erdenklich mögliche, um den Kibbuz-Mitgliedern zu helfen. Sie erzählt von der Wachmannschaft, die versuchte, den Ort zu verteidigen. Von Menschen, die versuchten, sich vor den Terroristen zu verstecken. Viele ihrer Freunde kamen an dem Tag ums Leben.
Im Kibbuz sind die Spuren des Tages überall sichtbar. An vielen Stellen sind Einschusslöcher, überall hängen Plakate Verstorbener. Kaum jemand ist auf der Straße. An einem Haus baut jemand eine neue Terrasse, eine Gruppe Soldaten der israelischen Armee schaut sich den Ort an.
Viele Häuser sind verlassen, nur wenige Bewohner sind bislang zurückgekehrt. An jedem Haus sind Markierungen der Armee, die nach dem Attentat die Häuser untersucht hatte. Keine Terroristen, kein Sprengstoff mehr im Haus soll das bedeuten.
Chen Kotler führt dorthin, wo Ziv und Gali wohnten, in die „coolste Gegend“ im Kibbuz, wie sie sagt.

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Kleine, einfache Häuser, stehen hier, grau verputzt. Im Inneren ist meist ein Raum, eine kleine Küchenzeile, ein kleines Bad. Alles hat den Charme eines Studentenviertels. Nach dem Schulabschluss ziehen die noch jungen Leute aus dem Kibbuz dorthin, wohnen hier, während sie ihren Militärdienst ableisten.

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Doch das Innere der Häuser ist verwüstet. Alles ist kaputt, verbrannt, man sieht Einschusslöcher in den Wänden.
Am 7. Oktober schlug die Hamas hier am härtesten zu. Direkt hinter dem Viertel ist der Grenzzaun des Kibbuz‘. Dahinter Felder und Wiesen. Dann kommt Gaza. Durch den Zaun brachen die Hamas-Terroristen hindurch und töteten fast alle jungen Leute.

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Hier wohnt niemand mehr. Das Kibbuz hat alles so belassen, wie es ist. Das Viertel ist zu einer Art Gedenkstätte geworden. „Alle, die hier umgebracht wurden, waren unsere Töchter und Söhne“, sagt Chen Kotler.
Im Kibbuz kennt jeder jeden
In einem Kibbuz kennt jeder jeden, Kinder unterschiedlicher Familien wachsen wie Geschwister gemeinsam auf. Um so mehr hoffen die Bewohner im Kibbuz, dass Ziv und Gali endlich wieder nach Hause kommen.
Rund 3000 Kilometer entfernt sitzt Liran Berman in der Geschäftsstelle des Berliner Fußballvereins Hertha BSC. Er trägt eine Kette mit der berühmt gewordenen gelben Schleife um den Hals, auf seinem T-Shirt steht „Gali und Zivi“ – die Namen seiner Brüder.

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Hertha BSC hat ihn eingeladen, um über seine Brüder zu sprechen, die selbst große Fußball-Fans sind. Liran ist einer jener Israelis, die seit Monaten auf das Schicksal ihrer Angehörigen aufmerksam machen, Proteste organisieren, mit der Presse sprechen wollen. Das sei nun sein Job, sagt er.
Ziv und Galis Schicksal steht stellvertretend für Dutzend andere, die noch in Geiselhaft sind. 251 Menschen wurden am 7. Oktober von der Hamas verschleppt, 59 werden immer noch im Gazastreifen festgehalten. 24 sollen noch am Leben sein, mit letzter Sicherheit lässt sich das nicht sagen.
Wie es ihnen geht, unter welchen Bedingungen sie gefangen gehalten werden und ob sie überhaupt noch leben, wissen die Angehörigen aus Erfahrungsberichten der bereits ausgetauschten Geiseln. In Israel gibt es deshalb seit Monaten Proteste. Die Wut auf Israels Premier Benjamin Netanjahu und dessen Vorgehen im Gazastreifen ist groß.
Dass Israel in der vergangenen Woche die mühsam ausgehandelte Waffenruhe aus dem Januar brach, wieder Luftangriffe auf Gaza flog und in Teilen des Küstenstreifens eine Bodenoffensive startete, beunruhigt die Angehörigen sehr. Aus Berichten der Ausgetauschten weiß man, dass die Hamas die Geiseln noch schlechter behandelt, wenn die Kämpfe intensiver werden.
Als die Kämpfe wieder losgingen, hatte die ganze Familie große Angst, sagt Liran Berman. Man habe Sorge, dass die Ziv und Gali nun von den Entführern misshandelt oder durch versehentlich durch eine Bombe getroffen würden.
Die einzige Möglichkeit, sie zurückbekommen, sei durch Geiselverhandlungen. „Meine Brüder haben keine Zeit mehr, sie können nicht noch ein Jahr lang in den Tunneln von Gaza bleiben.“ Er hoffe, dass die jetzigen Kämpfe dazu dienten, die Hamas zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen. Aber auch die israelische Regierung müsse tun, was immer sie könne, um die Geiseln zurückzubringen.

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Liran Berman möchte aber von Ziv und Gali erzählen. Sie seien fußballverrückt, unterstützen den israelischen Fußballverein Maccabi Tel Aviv. „Leider“, sagt ihr Bruder lächelnd. Er ist Fan eines anderen israelischen Vereins. Doch gemeinsam unterstützen sie den englischen Verein FC Liverpool. Außerdem mögen die beiden Musik, ein paar Wochen vor dem Terrorangriff der Hamas waren sie auf einem Musik-Festival in Belgien. Beide arbeiten bei einer Veranstaltungsfirma, sind oft mit Künstlern unterwegs.
Ziv und Gali haben deutsche Vorfahren
Ziv und Gali haben die deutsche Staatsbürgerschaft, ihre Urgroßeltern kamen vor Jahrzehnten nach Israel. Die Bundesregierung tue, was sie könne, aber es sei offenbar noch nicht genug, sagt Liran Berman. „Deutschland ist eines der stärksten Länder der Welt und hat viel Einfluss.“ Deshalb müsse es mehr Druck auf die beteiligten Länder ausüben, etwa Katar oder Saudi-Arabien.
Seit 540 Tagen sind die beiden Gefangene der Hamas. In dieser Zeit hatten sie Geburtstag. Das zeigt auch ein Schild, dass Liran Berman dabei hat. Die 26 hat er durchgestrichen – das Alter, in dem die beiden entführt wurden.
Dass sich Ziv und Gali dazu entschieden hätten, im Kibbuz zu bleiben, spreche für ihren Charakter und die Verbundenheit zu ihrer Familie, erzählt ihr Bruder. Sie hätten auch nach Tel Aviv gehen können, die schillernde Metropole, die nur etwa eine Autostunde entfernt von Kfar Aza liegt. Viele Israelis würden das mit Mitte 20 machen. „Die beiden entschieden sich allerdings, nahe bei unseren Eltern zu bleiben. Unser Vater hat Parkinson und Demenz“, sagt Liran.
Ziv und Gali sitzen in den Tunneln unter Gaza, niemand kann sie hören. Ich bin ihre Stimme.
Liran Berman, Bruder der entführten Zwillinge Ziv und Gali.
Er selbst war am 7. Oktober nicht im Kibbuz, der 37-Jährige wohnt mit seiner Familie im Norden Israels. Liran Berman lag im Bett, bekam unaufhörlich Alarmwarnungen auf sein Handy. Seine Frau und seine zwei kleinen Kinder schliefen noch. Er machte den Fernseher an, sah die Bilder der Hamas-Terroristen, die mit einem Pick-up-Truck durch Sderot fuhren, weniger Kilometer von Kfar Aza entfernt.
Hilflos habe er sich gefühlt. Elf Tage lang wusste die Familie nicht, was mit den beiden Brüdern passiert ist, bis man Gewissheit hatte: Sie wurden in den Gazastreifen entführt.
Seitdem macht er auf das Schicksal seine Brüder aufmerksam, sieht seine eigenen beiden Kinder daher wenig. Das letzte Lebenszeichen habe die Familie Anfang Januar bekommen. Die beiden seien verletzt, sie wurden gleich zu Beginn ihrer Gefangenschaft voneinander getrennt. Aber er habe das Privileg zu wissen, dass seine Brüder noch leben. „Ich werde tun, was immer ich kann, um sie zurückzuholen“, sagt Liran Berman. „Sie sitzen in den Tunneln unter Gaza, niemand kann sie hören. Ich bin ihre Stimme.“
Nach Kfaz Aza ist in den vergangenen Monaten das Leben zurückgekehrt. Langsam. Etwa 30 Leute wohnen jetzt wieder hier. Die meisten Häuser stehen leer, einige ehemalige Bewohner sind immer noch über das Land verteilt. Viele wollen zurückkommen, wenn die Häuser wieder aufgebaut und renoviert sind, erzählt Chen Kotler. Mitte nächsten Jahres soll es so weit sein.
Viele aber werden wohl niemals zurückkehren, zu schwer wiegt das Trauma des 7. Oktober. „Es wird einige Generationen dauern, bis es hier wieder normales Leben gibt“, sagt Chen Kotler. Aber um die Gemeinschaft wieder aufzubauen, dafür brauche man Ziv und Gali. So schnell wie möglich.
Die Pressereise nach Israel wurde von der „Europe Israel Press Association“ organisiert und finanziert.
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