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Russlands Zerstörungswerk: das syrische Aleppo und Charkiw in der Ukraine.

© Montage: Tagesspiegel; Fotos: IMAGO/ITAR-TASS, IMAGO/ABACAPRESS

Ukrainische Millionenstadt unter Dauerbeschuss: Charkiw darf kein zweites Aleppo werden

Putins Truppen wollen die ukrainische Metropole sturmreif schießen. Der Westen muss das verhindern. Doch ihm mangelt es an Mut und Entschlossenheit. Das kommt Moskau entgegen.

Christian Böhme
Ein Kommentar von Christian Böhme

Stand:

Es herrscht Krieg. Schon seit langer Zeit. Leid, Tod und Furcht sind allgegenwärtig. Genau darauf legt es der Aggressor an. Er will die Stadt erobern. Wenn dort der Widerstand zusammenbricht, könnte am Ende des ganzen Feldzugs der Sieg stehen.

Es wäre ein symbolträchtiger Erfolg, der den Gegner brechen könnte. Also gibt es Dauerbeschuss, werden bewusst zivile Ziele bombardiert. Völkerrecht? Ist für Schwächlinge! Was allein zählt, was sich allein auszahlt: grenzenlose Brutalität. So war es vor acht Jahren in Syrien, so ist es heute in der Ukraine.

Was Charkiw im Osten des Landes womöglich bevorsteht, das widerfuhr auf verstörende Weise Aleppo im Jahr 2016. Die Stadt wurde belagert und beschossen – mit dem Ziel, sie dem Erdboden gleichzumachen.

Das syrische Aleppo glich vor acht Jahren einer Todeszone

An den dort lebenden Gegnern des Regimes wollten Wladimir Putin und sein Schützling Baschar al Assad ein Exempel statuieren: Wage es keiner, gegen uns aufzubegehren. Mit allen militärischen Mitteln wurde Aleppo sturmreif geschossen – Fassbomben, Streumunition, Giftgas. Auch Hunger wurde als Waffe eingesetzt. Die Vereinten Nationen sprachen von einer Todeszone.

Am Ende blieb vor allem im Ostteil des einstigen Wirtschaftszentrums nur eine Trümmerlandschaft. Ein Ort wie ein Friedhof, an dem kein Stein mehr auf dem anderen lag. Danach war der Aufstand in Syrien mehr oder weniger beendet. Putin hatte sein erklärtes Ziel erreicht. Vor allem, weil sich ihm keiner entgegenstellte. Der Westen ließ die Tragödie mit dem Ausdruck größten Bedauerns geschehen.

Charkiw wird von Russland fast unaufhörlich bombardiert.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Ein ähnliches Schicksal könnte Charkiw drohen. Auch dort versucht Russland, mit großer Gewalt Fakten zu schaffen, die Menschen auf die Knie zu zwingen. Luftangriff folgt auf Luftangriff, Bombe auf Bombe. Alles wird attackiert, bevorzugt Wohngebäude, Infrastruktur und Firmen.

Russische Kriegsverbrechen – wer würde dem widersprechen?

Oder wie vor wenigen Tagen ein Einkaufszentrum für Heimwerkerbedarf. Mindestens 14 Menschen kamen dabei ums Leben. Für Präsident Wolodymyr Selenskyj sind derartige Attacken ein Beweis des russischen Wahnsinns, der darin bestehe, die ukrainische Bevölkerung zu terrorisieren und zu töten. Das seien Kriegsverbrechen. Wer wollte ihm widersprechen?

Auch im Westen wird dies keiner tun. Aber ähnlich wie im Fall von Aleppo passiert so gut wie nichts, um dies zu verhindern. Man lässt Putin gewähren.

Ein Leben in Trümmern. So sah es in Aleppo 2017 aus.

© Joseph Eid/AFP/JOSEPH EID

Kurz bevor Aleppo im Dezember 2016 fiel und die noch verbliebenen Gegner Assads abzogen, fragten die geschundenen Einwohner gleichermaßen verzweifelt und wütend: Warum hat uns niemand geholfen? Wie konntet ihr uns nur im Stich lassen? Die Antwort beschränkte sich auf banales Schulterzucken.

Die Hilfe für Kiew reicht hinten und vorne nicht

Heute ist der Westen wieder gefordert. Auch in Charkiw und vielen anderen ukrainischen Orten hoffen die Menschen, dass sie die notwendige Unterstützung im Kampf gegen den Angreifer bekommen.

Doch trotz aller Hilfe, die der Regierung in Kiew gewährt wird: Es reicht vorne und hinten nicht, um Putin auf Dauer davon abzuhalten, sich ein großes Stück der Ukraine einzuverleiben. Die Frauen, Kinder, Männer, Jungen und Alten in Charkiw lässt Moskau jeden Tag wissen, wie hilflos sie der brutalen russischen Machtpolitik ausgeliefert sind.

Der Kriegsherr, der nur unter seinen Bedingungen zu einer Waffenruhe bereit ist.

© AFP/MIKHAIL METZEL

Noch scheint die Stadt standzuhalten. Anders als bei Aleppo existiert ein Hinterland, ist zumindest eine rudimentäre Versorgung noch gesichert. Es gibt Soldaten, die die Stadt verteidigen.

Moskau zwingt Charkiw einen zermürbenden Abwehrkampf auf

Aber wie lange lässt sich verhindern, dass Charkiw ein zweites Aleppo wird? Wenn Unterstützung ausbleibt, wird der Einsatz von Fassbomben oder Giftgas nicht nötig sein, damit Putin seine Offensive dort siegreich beenden kann. Die Übermacht an Soldaten und Material dürfte ausreichen, um Charkiw einen zermürbenden Abwehrkampf aufzuzwingen, den die Stadt auf sich allein gestellt kaum durchhalten kann.

Dabei wäre es recht einfach, Charkiw zu schützen. Ein paar Patriot-Flugabwehrsysteme würden wohl schon einen entscheidenden Unterschied machen – den zwischen Leben und Tod. Dafür sind nur wenig Mut und Entschlossenheit erforderlich.

Von beidem hat der Westen offenkundig nicht genug. Auch die Diskussion über eine mögliche Zielfreigabe für westliche Waffen, um russische Stützpunkte unter Beschuss zu nehmen, wirkt wohlfeil. Zumindest so lange es der Ukraine an der dafür erforderlichen militärischen Ausrüstung mangelt.

Doch niemand ist ernsthaft bereit, das Notwendige zu liefern, damit die zweitgrößte ukrainische Stadt nicht in die Hände Russlands fällt. Zögern trifft auf Zaudern. Um diese Schwäche weiß Putin. Sie macht ihn stärker, als er ist.

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