zum Hauptinhalt
Region Astrachan, Russland, 7. APRIL 2020: Ein selbstfahrendes Boden-Luft- und Flugabwehrraketensystem vom Typ Pantsir feuert während einer Militärübung der russischen Streitkräfte, bei der eine Reaktion auf feindliche Angriffe simuliert wird, eine Rakete ab.

© imago images/ITAR-TASS

„Viele der wichtigsten Fabriken sind verwundbar“: Experten identifizieren kritische Schwachpunkte in der russischen Militärindustrie

Russland baut seine Luftverteidigungssysteme gar nicht so weit von der ukrainischen Grenze entfernt zusammen. Militärforschende sehen hier eine Chance für ukrainische Attacken mit fataler Kettenreaktion.

Stand:

Seit bald vier Jahren kann sich Russland einen kostspieligen und verlustreichen Krieg in der Ukraine leisten. Trotz internationaler Sanktionen und trotz der mit westlichen Waffen unterstützten Verteidigungsarmee Kiews. Die Ursachen dafür sind vielfältig und haben Militärexperten zufolge mehr mit Lücken in der Ukraineunterstützung und weniger mit einer Stärke Russlands zu tun. Gleichwohl verfügt der Aggressor über bestimmte militärische Vorteile, die bisher nur wenige Schlagzeilen produziert haben. Dazu gehört die Luftabwehr.

Russlands Luftverteidigung: besser als bekannt, aber dennoch verwundbar

Die erfolgreichen ukrainischen Raketen- und Drohnenangriffe auf russische Ölanlagen in diesem Jahr verstellen den Blick darauf, dass die russische Verteidigungsfähigkeit insgesamt gut aufgestellt ist. Denn „Russland produziert einige der beeindruckendsten Luftabwehrsysteme der Welt und setzt sie in großer Zahl ein“, schreibt das 1831 gegründete, unabhängige britische Militärforschungsinstitut Rusi in einer neuen Studie.

Diese Verteidigung fange einen Großteil der ukrainischen Angriffe ab, die auf die Infrastruktur und Industrie Russlands zielen. Social-Media-Videos brennender Öl-Anlagen mögen einen anderen Eindruck erwecken, doch zur Wahrheit gehört eben, dass Russland diese ukrainischen Erfolge laut Studie teilweise in Kauf nimmt, um die Verteidigung an anderer Stelle zu konzentrieren. Dort werde es für die Ukraine dann deutlich schwieriger, selbst bei Einsatz leistungsstarker westlicher Marschflugkörper wie den britischen Storm Shadows.

Die Forschenden nehmen in ihrer Studie russische Boden-Luft-Raketensysteme in den Blick, darunter die Typen S-400 (für längere Distanzen) und Pantsir (für kürzere Distanzen). Sie bestehen jeweils aus einem Fahrzeug mit Kommandozentrale, Radar und Abschussvorrichtung. Die Systeme werden in Kriegsgebieten eingesetzt und schützen auch den Luftraum in Russland selbst unter anderem gegen Drohnen und Marschflugkörper aus der Ukraine. Doch Kiew ist dagegen nicht machtlos.

Ein Pantsir-S bei einer Militärparade im Mai 2025 in Tula.

© IMAGO/SNA

Schwachpunkt 1: Abhängigkeit vom Ausland

Trotz aller Stärke hat die russische Luftverteidigung Schwachpunkte, die die Forschenden in ihrer Studie offenlegen. Ein grundsätzlicher Nachteil bestehe in der russischen Abhängigkeit von ausländischen Gütern bei der Herstellung der Verteidigungssysteme.

Russland gelingt es nach wie vor, wichtige Werkzeugmaschinen, Bauteile und Rohstoffe von Nato-Mitgliedern zu erwerben, ganz zu schweigen von Drittländern“, steht in der Studie. Außerdem werde auf ausländische Software zurückgegriffen. Gezielte, konsequent durchgesetzte Sanktionen gegen Moskau seien daher notwendig. Doch auch die ukrainische Armee könne ihren Beitrag leisten, Russlands Flugabwehr nicht nur zu überwinden, sondern nachhaltig zu schädigen.

Schwachpunkt 2: Konzentration in Tula

Die ukrainische Luftwaffe müsste Attacken auf „kritische Knotenpunkte der Luftabwehrproduktion“ priorisieren, schreiben die Rusi-Forschenden. „Viele der wichtigsten Fabriken sind konzentriert und potenziell anfällig für Angriffe“. Zum Beispiel in der russischen Großstadt Tula, südlich von Moskau, nur ungefähr 350 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.

In Tula werden die Kanonen der Pantsir-Systeme gefertigt. Auch spiele die entsprechende Firma eine entscheidende Rolle bei der Produktion der benötigten Radare. Damit befinden sich Russlands wichtige Waffenfabriken in Reichweite ukrainischer Drohnen und dem Marschflugkörper Flamingo, der in Massenproduktion gehen soll.

Ein schwerer Schlag auf die Fabriken in Tula hätte laut Rusi eine für Russland weitreichende Konsequenz. Wegen der dann gestörten Pantsir-Produktion wäre die Verteidigungsfähigkeit auch an anderer Stelle geschwächt.

Bisher gibt es jedoch keine Meldungen über erfolgreiche ukrainische Schläge in Tula. Das dürfte einerseits mit der starken Verteidigung der Waffenfabriken zusammenhängen, von der die Forschenden schreiben. Andererseits seien die Angriffsdrohnen der Ukraine für viele Ziele einfach zu schwach. Während sich Öl damit relativ einfach in Flammen setzen lasse, sei es ungleich schwieriger, Industrieanlagen zu beschädigen.

Taktik: Erst überlasten, dann die großen Geschosse abfeuern

Positiv bewertet Rusi in diesem Zusammenhang das wachsende ukrainische Arsenal eigener Marschflugkörper, die viel mehr Zerstörung anrichten können als Sprengstoff-Drohnen. Außerdem sei die richtige Angriffstaktik entscheidend. Die Konzentration der russischen Waffenfabriken an wenigen Standorten wird dabei gleichsam als Problem und als Chance gesehen. Zwar sei die russische Luftverteidigung an diesen Stellen besonders gut, doch wenn sie erst mal überwunden ist, wird ein großer Teil der wichtigen Fabriken auf einen Schlag verwundbar.

Die Ukraine könnte daher eine Operation starten, um die Abwehrkräfte bei einem Vorstoß auf Tula zu überlasten, bevor sie mit Marschflugkörpern einen schweren Schlag gegen die Pantsir-Produktion führt“, schreiben die Rusi-Forschenden.

Zudem sei Tula nur eine von mehreren identifizierten Schwachstellen in Russlands Luftverteidigungsproduktion. Sie alle auszunutzen könnte einen großen Beitrag leisten, „das wirtschaftliche Rückgrat der russischen Kriegsanstrengungen“ zu schwächen. Auch würde die Luftmacht der Nato damit gestärkt und die Bereitschaft des Kremls zu weiteren Aggressionen verringert werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })