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Brüchige Waffenruhe im Gazastreifen: „Die Menschen beginnen gerade erst damit, ihre Traumata zu verarbeiten“
Seit gut einem Monat herrscht Waffenruhe in Gaza. Doch an normales Leben ist nicht zu denken. Ein deutscher Chirurg schildert, wie die Menschen zaghaft aufatmen – und wie groß die Not weiter ist.
Stand:
Herr Wynands, vor gut einem Monat haben sich Israel und die Hamas auf Donald Trumps Friedensplan geeinigt, offiziell sollen seitdem die Waffen schweigen. Haben Sie davon etwas gespürt?
Ja, ganz klar. Nicht nur als Chirurg, sondern auch als Mensch vor Ort. Der dauernde Beschuss, der noch im vergangenen Jahr wahrnehmbar war, hat aufgehört. Vereinzelt hört man jetzt noch Explosionen, aber in den vergangenen Wochen hat sich da einiges verändert.
Wirkt sich das auf die Stimmung der Menschen aus?
Wenn die Waffen weitestgehend schweigen, bekommen die Menschen Zeit, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Zu trauern und auch Gedanken zuzulassen, die vorab in diesem Dauerstress des Krieges und in diesem ständigen Überlebensmodus nicht möglich waren. Trotzdem ist es alles andere als ein normales Leben.
Internationale Presse darf nach wie vor nicht nach Gaza. Können Sie uns beschreiben, was die Menschen Ihnen erzählt haben?
Ich habe schon bemerkt, dass die Menschen gerade erst damit beginnen, ihre Traumata zu verarbeiten, denn sie sprechen verstärkt über das Erlebte. Palästinensische Kollegen erzählten vom Verlust von Angehörigen, von Kindern, ihrem ganzen Leben. Zugleich nahm ich ein fast schon geschäftiges Treiben wahr. Viele Menschen bauen ihre Zelte ab und versuchen, zurück in ihre Heimatorte zu gehen. Ein Kollege hat mir beispielsweise erzählt, dass er seinen Vater jetzt zurück in den Norden gebracht hat. Nicht, um das zerstörte Haus wieder aufzubauen, sondern um den Grund und Boden zu bestellen. Er will da jetzt wieder Gemüse anbauen.
Könnte man sagen, dass die Menschen hoffnungsvoll sind?
Ich glaube, von Hoffnung zu sprechen, verbietet sich in diesem Kontext fast. Die Menschen meines Alters haben alle schon mehrere Krisen und Kriege erlebt. Deshalb würde ich eher von einem umfassenden Realismus sprechen, der mir begegnet ist.
Sie nutzen jetzt vielmehr die Möglichkeit, ihre Zukunft zum Beispiel beim Wiederaufbau in die eigenen Hände zu nehmen. Es herrscht also weniger Hoffnung als vielmehr eine tiefe Sehnsucht nach ein bisschen Normalität, nach einem Leben mit Waffenruhe – und vielleicht eines Tages auch Frieden.
Tausende Menschen leben in Zelten, wo es keine Heizung gibt, sondern ein offenes Feuer, an dem sich Kleinkinder teils schwer verbrennen. Auch das ist eine Folge von Krieg und Vertreibung.
Jan Wynands, Arzt, über die Lage in Gaza
Sie waren jetzt das dritte Mal in Gaza. Hat sich die medizinische Situation seit Ihrem Aufenthalt 2024 verändert?
Wir haben nicht mehr diese massive Zahl an Schwerverletzten oder Kriegsverletzten wie zuvor, das ist radikal weniger geworden. Jetzt habe ich vor allem Patienten mit chronischen Wunden als direkter Folge des Krieges behandelt, Alltagsverletzungen oder Verbrennungen.
Schmerzmittel, Antibiotika und Basismaterial für die medizinische Versorgung fehlen seit Langem im Gazastreifen. Unter welchen Bedingungen haben Sie gearbeitet?
Über die Organisation Ärzte ohne Grenzen haben wir genügend Material für basischirurgische Maßnahmen, ich habe also unter recht soliden Bedingungen gearbeitet. Aber gerade bei großflächigen Verbrennungen, häufig bei Kindern, sind die Ressourcen schnell aufgebraucht.
Im Nasser-Krankenhaus im südlichen Gazastreifen hatten wir zwei OP-Säle und konnten verhältnismäßig vernünftig chirurgisch arbeiten. Aber all das Material hängt eben auch an der Nabelschnur des Nachschubs, der in den Gazastreifen gelassen wird. Wenn gewollt, ist das dann auch schnell wieder aufgebraucht.

© Reuters/Haseeb Alwazeer
Warum verbrennen sich häufig Kinder?
Tausende Menschen leben in Zelten, wo es keine Heizung gibt, sondern ein offenes Feuer, an dem sich Kleinkinder teils schwer verbrennen. Auch das ist eine Folge von Krieg und Vertreibung.
Wie wird das behandelt?
Die Kinder werden stabilisiert und in den OP gebracht, dort werden die verbrannten Hautschichten dann abgetragen und später eine Hauttransplantation durchgeführt.
Gab es Material, das Ihnen gefehlt hat?
Es wird noch eine große Welle an Verletzten kommen, aber in der Notfallversorgung kann man nicht alles austherapieren. Spezialmaterial für andere chirurgische Eingriffe hatten wir nicht. Zum Beispiel, um Knochen aufzufüllen oder Gefäße und Nerven wiederherzustellen. Da braucht es viel, viel mehr Material und auch ausgebildete Chirurgen.

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Welche Wunden haben Sie behandelt?
Vor allem Verletzungen, die direkte Kriegsfolgen sind, und chronische Wunden. Ganz konkret hatten wir einige Patienten, deren Rückenmark durch Explosionen durchtrennt worden ist und die jetzt gelähmt und bettlägerig sind. Das ist per se eine Riesenkatastrophe.
In Gaza gibt es zusätzlich noch chronische Mangelernährung, es kommt zu Druckgeschwüren. Das muss chirurgisch behandelt werden, zugleich muss sich die Ernährungssituation verbessern.
Zehntausende Menschen haben einfach gar nichts mehr außer einer Plane über dem Kopf.
Jan Wynands, Arzt, über die Lage in Gaza
Wie viele Menschen haben Sie täglich behandelt?
Gar nicht so viele, sieben bis acht Patienten. Darunter Kinder mit Verbrennungen, junge Männer, die neue Eingriffe zum Beispiel nach Schussverletzungen brauchten, Frauen mit Amputationsverletzungen. Im Großen und Ganzen aber Kinder ebenso wie Erwachsene, Frauen wie Männer.
Teil des Friedensplans war die Vereinbarung, umgehend und volle Hilfe in den Gazastreifen zu schicken. Haben Sie davon, auch im Vergleich zu Ihrem Besuch 2024, etwas bemerkt?
Klar gibt es weiter Restriktionen, auch bei sogenannten Dual-Use-Materialien, also medizinischem Equipment, das vermeintlich auch anders genutzt werden könnte. Ich habe auch festgestellt, dass Lebensmittel billiger geworden sind. Tomaten sind zum Beispiel auf ein Zehntel des vorherigen Preises gesunken.
Das ist für mich ein Zeichen, dass schon mehr Lieferungen hereinkommen. Aber das kann halt auch schnell wieder ganz anders sein, es sind tatsächlich nur Momentaufnahmen. Und sollte den Blick nicht verzerren, das ist alles andere als normal. Zehntausende Menschen haben einfach gar nichts mehr außer einer Plane über dem Kopf.
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