zum Hauptinhalt
Gräber von im Ukrainekrieg gefallenen russischen Soldaten auf einem Friedhof in Sankt Petersburg.

© REUTERS/ANTON VAGANOV

„Wenn du weinst, lassen sie dich nicht rein“: Eine Reporterin schlich sich undercover in Russlands Leichenhalle für gefallene Soldaten

Diesen Ort dürfte es in der gespielten Normalität Russlands nicht geben: eine Leichenhalle nur für im Ukrainekrieg gefallene Soldaten. Ein russisches Magazin war dort.

Stand:

Im Süden Russlands, nur rund 100 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, befindet sich die einzige Leichenhalle des Landes, die nur im Krieg gefallene Soldaten aufnimmt. Errichtet wurde sie bereits während des ersten Tschetschenien-Kriegs in den 90er-Jahren, in Rostow am Don. Doch seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat die Arbeitsbelastung ein neues Niveau erreicht. Vom Stadtzentrum wurde sie an den nördlichen Rand nahe dem Flughafen verlagert, wo sie wie eine eigenständige Kleinstadt anmutet.

Die Existenz dieser Leichenhalle steht im Widerspruch zur gelebten Realität in Russland, die auf der Verdrängung des Kriegs beruht. In der Öffentlichkeit wie in den meisten privaten Gesprächen findet er nicht statt, und kein kremltreues Medium würde über die Leichenhalle berichten. Zu lebendig ist noch die Erinnerung an die Schrecken des Afghanistankriegs und die „Fracht 200“: das militärische Codewort für die Transporte der Überreste gefallener Soldaten, die zu Tausenden in Zinksärgen zurück in die Heimat geschickt wurden.

Eine Reporterin des unabhängigen russischen Onlinemagazins „Verstka“ hat sich vergangenen Sommer verdeckt auf dem Gelände der Leichenhalle umgesehen, indem sie vorgab, die Schwester eines Soldaten zu sein. Die russische Öffentlichkeit bekam so erstmals Einblick in die mühsame Arbeit und den Schmerz, die mit der Identifizierung der vielen gefallenen Soldaten verbunden sind.

Bis zu 600 Anfragen täglich

„Verstka“ beschreibt ein weitläufiges Areal, auf dem sich neben den eigentlichen Leichenhallen auch Räume für die Entgegennahme von Identifizierungsanträgen und für Gespräche mit Militärermittlern und Staatsanwälten befinden, ebenso wie Warteräume für Angehörige und Arztpraxen für DNA-Tests. Hat eine vermisste Person keine nahen Angehörigen, dann suchen die Experten in deren Wohnung nach DNA-Spuren – etwa in Kämmen oder Zahnbürsten.

Psychologen und Ärzte seien rund um die Uhr im Einsatz, für Angehörige würden Tee und Kekse bereitgestellt. In einer Warteschlange traf die Reporterin eine Frau namens Natalja. „Es ist gut organisiert, wenn man das so sagen kann“, habe ihr diese gesagt. „Sie erklären alles, sie erzählen alles.“

Durchschnittlich registriert die Leichenhalle pro Tag 500 bis 600 Anfragen von Angehörigen, berichtet das unabhängige russische Medium „Veter“. Die meisten seien Frauen, die nach ihren Ehemännern, Brüdern und Söhnen suchen – und doch hofften, sie nicht an diesem Ort zu finden. Auch Natalja sei nach Rostow gereist, um die Leiche ihres Mannes zu identifizieren. Doch sie habe die ihr gezeigten Überreste nicht erkannt, und so sei sie wieder abgereist in der Hoffnung, ihn eines Tages lebend wiederzusehen.

„Wenn du anfängst zu weinen, lassen sie dich nicht rein“, habe eine Frau namens Ekaterina aus Kaliningrad die Journalistin gewarnt. Sie habe weniger Glück gehabt als Natalja: Die Leiche ihres Mannes sei zwar mit den Dokumenten eines anderen Mannes eingeliefert worden, doch sie habe ihn sofort erkannt.

Freiwillige der Organisation Plastdarm bergen die Leichen russischer Soldaten in der Ukraine.

© IMAGO/Anadolu Agency/Jose Colon

Eine weitere Frau, Tatjana aus Rossosch, habe Ekaterina zugestimmt: „Wenn Sie mit der Absicht hingehen, einen Wutanfall zu bekommen, hat das keinen Sinn.“ Weinen und Haare raufen seien was für die Beerdigung, nicht für die Leichenhalle. „Behandeln Sie sie wie einen Lebensmittelladen. Es ist nur ein gewöhnlicher Ort, an dem Sie vorübergehend etwas tun. Nur ein Abschnitt Ihres Lebens, der vorübergeht.“

Mindestens 100 Menschen arbeiteten auf dem Gelände, ein paar von ihnen als Freiwillige, doch die meisten seien Wehrpflichtige. Selbst unter letzteren gäbe es nur wenige, die dieser Arbeit bereitwillig nachgehen – obwohl sie fern der Front sind und stattliche 210.000 Rubel netto (rund 2200 Euro) verdienten.

Der Geruch überträgt sich auf alles.

Viktor, ein Soldat, der Leichentransporte betreut

Eine der wenigen Freiwilligen war die Friseurin Jekaterina Snigirewa aus Rostow am Don, die in Russland eine gewisse Berühmtheit erlangte. Seit Ende 2022 half sie unermüdlich Familien, ihre Toten zu finden und zu identifizieren. Auch die „Novaya Gazeta“ berichtete über sie. Inzwischen ist Snigirewa aber ins Visier der Militärpolizei geraten. Sie soll Geldspenden von Angehörigen einbehalten haben, die sie um DNA-Tests gebeten hätten.

Der Soldat Dmitri berichtete gegenüber „Verstka“ von einer Reise nach Rostow am Don im Jahr 2023, um „Fracht 200“ abzuholen. Er habe die „relativ intakte“ Leiche eines Kameraden identifiziert, angezogen und in einem Sarg versiegelt. Nichts in der Leichenhalle habe ihn schockiert, bis er nach draußen ging, „um zu rauchen und nachzudenken“. In dem Moment fuhr ein Pritschenwagen auf das Gelände. „Die Türen öffneten sich und da lagen etwa vierzig Leichen übereinander. Sie lagen dort in derselben Kleidung, in der sie gebracht worden waren. Sie wurden [hinein] getragen.“

Das Schlimme sei der Geruch, sagte ein anderer Soldat, Viktor, gegenüber „Verstka“: „Es ist, als würde man einen normalen Kühlschrank voller Lebensmittel nehmen. Wenn etwas verdorben ist, überträgt sich der Geruch auf alles andere. Es ist so ziemlich dasselbe. Man kommt nach Hause, bleibt eine Weile und wirft dann seine Uniform in die Wäsche. Dann wirft man sie noch einmal in die Wäsche. Weil man stinkt.“

Gleichzeitig zitiert „Verstka“ die Mutter des Soldaten Ruslan, der ebenfalls in der Leichenhalle arbeitet: Ihr Sohn sei so an die Tätigkeit gewöhnt, dass er sogar direkt an seinem Arbeitsplatz zu Mittag essen könne.

Chatgruppen für die Trauer

Manchmal erfolgt eine vorläufige Identifizierung der Leichen auch aus der Ferne: über geschlossene Telegram-Chats. Der größte davon heißt „Suche nach vermissten Soldaten“. Laut russischen Medien hatten bis Ende des vergangenen Sommers 127.000 Menschen so ihre Angehörigen gefunden.

Freiwillige Chat-Administratoren veröffentlichen dort Nachrichten mit der Körper- und Schuhgröße oder detaillierte Beschreibungen der Tätowierungen von gefallenen Soldaten, die bisher nicht identifiziert werden konnten.

Die Journalistin von „Verstka“, die sich auch in dem Chat als Verwandte eines Vermissten ausgab, wird schnell zu weiteren Chat-Gruppen eingeladen. Eine ist für Suchanfragen gedacht und für Beileidsbekundungen, wenn ein Soldat identifiziert wurde. Sie zählte 1805 Mitglieder. Die zweite Gruppe dient dem Austausch und der Unterstützung. Tag und Nacht diskutieren Menschen über Identifizierungsverfahren, Betrüger, Depressionen, Schlaflosigkeit und Gerichtsverfahren, aber auch über die Präsidenten Russlands und der Ukraine. Hier können sie über den Krieg sprechen, der nicht Teil der russischen Realität sein soll und sie doch getroffen hat.

„Jetzt werde ich ihn begraben und mich bald neben ihn legen“, schreibt eine Person darin. Eine andere bemerkt in Bezug auf die DNA-Analyse: „Sie haben nichts aus den Rasierern herausgezogen und sie nehmen keine Einlegesohlen. Weißt du, warum? Sie brauchen lebendes Fleisch.“ Und wieder eine andere schreibt: „Das ist ein Krieg. Wenn wir ihn nicht beenden können, warum zum Teufel haben wir ihn dann angefangen?“

Und dann seien da noch lange Audio-Nachrichten, die nur schwer zu verstehen sind, weil die Stimme der Absenderin zittert oder sie weint.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })