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„Wir spüren die Schwachstellen mit unseren Körpern“: Oleh verlor im Krieg beide Beine – und kämpft jetzt als Jurist weiter
Über 100.000 Amputationen seit Kriegsbeginn – ein beispielloses Trauma für die Ukrainer. Oleh Symoroz ist einer von ihnen. Ohne Beine gestaltet er nun das System mit, das er selbst zum Überleben braucht.
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Oleh Symoroz wacht meist vor dem Wecker auf. Für einen Moment ist alles still, dann holt ihn sein Körper in die Gegenwart zurück. Er greift nach den Linern – den weichen Silikonhülsen für die Stümpfe –, prüft die Haut und setzt die ersten Schritte auf seinen kurzen Trainingsprothesen, den „Stabis“. Auf ihnen lernen Menschen nach einer Amputation, wieder zu stehen, das Gleichgewicht zu finden, das Gewicht zu verlagern.
Seine Kiewer Wohnung hat er komplett umgebaut: verbreiterte Durchgänge, entfernte Schwellen, brachte Haltegriffe entlang der Wände an. „Ich wollte keinen Alltag, in dem ich ständig über Hindernisse nachdenken muss“, sagt er. Während er Kaffee kocht, klingelt das Telefon. Symoroz, 28, spricht ruhig, konzentriert, ohne Anspannung – jemand, der seinen neuen Körper kennt und erklären kann, ohne Dramatik und ohne Bedauern.
Nach dem morgendlichen Training wechselt er zu den Hauptprothesen, die er sorgfältig fixiert, bevor er das Haus verlässt. Stehen viele Termine an, nimmt er gleich das Auto, um Kraft für den Tag zu sparen.
Der Tag, der alles veränderte
Im Frühjahr 2022 fuhr Symoroz als Soldat im Gebiet Donezk in einem Pickup, der auf eine Panzerabwehrmine geriet. Seine Kameraden zogen ihn unter Beschuss aus dem Fahrzeug. Die Evakuierung dauerte Stunden. Er überlebte – schwer verletzt, mit einer beidseitigen Oberschenkelamputation.
Was folgte, waren Intensivstation, Operationen, Infektionen, Revisionen – ein Kampf um jeden Zentimeter Gewebe. Nach der Stabilisierung wurde er nach Kiew verlegt, später auch in der privaten Klinik „Oberig“ behandelt.

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Schließlich kam er in ein ukrainisch‑amerikanisches Prothesenprogramm und erhielt hochmoderne Genium‑X3‑Prothesen von Ottobock, ursprünglich für das US‑Militär entwickelt. Die ersten Einstellungen nahmen amerikanische Spezialisten vor, weitere Anpassungen absolvierte er in den USA, die Feinjustierung erfolgte in Kiew und Swalyawa.
Der Schritt von den Stabis zu den elektronischen Prothesen war brutal anstrengend. Jede Bewegung erforderte Präzision. Doch der Moment, in dem er erstmals wieder stand, wurde zum Wendepunkt.
Wenn du deine Beine verlierst, verstehst du schnell, was funktioniert und was nicht.
Oleh Symoroz
Vor der Verletzung arbeitete Symoroz als Jurist – und kehrte nach der Prothesenversorgung in den Beruf zurück. „Ich war schon vor dem Krieg häufig unterwegs. Nur kostet es jetzt mehr Kraft“, sagt er. Seine Tage bestehen aus Beratungen, Fahrten und Treffen in Behörden.
Daneben engagiert er sich und arbeitet zur Veteranen- und Amputationspolitik mit, erklärt, welche Lösungen im Alltag wirklich funktionieren. „Am schwierigsten ist es, wenn Leute ohne Vorstellung vom Leben ohne Beine fragen, wie das alles geht.“
Außerdem hilft er beim Aufbau eines gemeinsamen ukrainisch‑amerikanischen Modells der Prothesenversorgung – Standards, Patientenwege, Rehabilitation. „Wir sind nicht mehr nur Enthusiasten. Wir bauen ein System“, sagt Symoroz. „Wenn du deine Beine verlierst, verstehst du sehr schnell, was funktioniert und was nicht. Wir spüren die Schwachstellen des Staates mit unseren Körpern – und verändern sie Schritt für Schritt.“
Eine Krise historischen Ausmaßes
Der Nationale Gesundheitsdienst der Ukraine meldete zwischen 2022 und 2024 93.566 Amputationen. Die WHO schätzte Mitte 2024 etwa 100.000, internationale Organisationen gehen hingegen von 100.000 bis 120.000 Fällen aus. Etwa 70 bis 80 Prozent der Eingriffe finden in der Ukraine statt, der Rest im Ausland. Schon die unteren Schätzungen machen diese Welle zur größten in Europa seit über einem Jahrhundert.
Ukrainische Prothesenzentren wie Superhumans behandeln Verletzungsmuster, die in Europa kaum vorkommen. Das liegt nicht an „einzigartiger Medizin“, sondern an den langen Evakuierungszeiten und der Art der Explosionstraumata. „Im Westen arbeiten sie mit der golden hour – 60 Minuten. Deshalb sehen sie kaum hohe Amputationen. Bei uns dauert die Evakuierung fünf bis sechs Stunden“, sagt Olha Rudneva, Leiterin von Superhumans. Fast die Hälfte ihrer Patienten hat Mehrfachverletzungen.

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Westliche Kliniken behandeln meist Amputationen nach Unfällen oder Diabetes. Explosionstraumata fallen dort aus den Standards. Ukrainische Spezialisten arbeiten mit Harvard, Yale und dem Royal College zusammen – doch für systematischen Wissenstransfer fehlt oft die Zeit.
Trotzdem sind die Ergebnisse oft besser als erwartet. „Wir hatten einen 15‑jährigen Jungen mit doppelter Amputation. In Deutschland sagte man ihm, er würde nie laufen. Heute arbeitet er bei uns, fährt Motorrad und lebt selbstständig“, erzählt Rudneva.
Weitergehen – und andere mitziehen
Symoroz arbeitet weiter, politisch wie beruflich. Am schwersten für ihn ist nicht der Schmerz, sondern die Bürokratie. „Wir bauen das System von Grund auf neu – weil wir selbst darin leben müssen.“
Ich muss in Bewegung bleiben, sonst bleibe ich innerlich stehen.
Oleh Symoroz
Dann wird seine Stimme härter. „Es gibt Leute, die weggefahren sind und so tun, als ginge sie der Krieg nichts an. Ich verurteile niemanden, aber Pflicht hat nichts mit Beinen zu tun. Es geht darum, ob du bereit bist, an der Seite deines Landes zu bleiben – auch wenn es dir Angst macht.“
Abends legt er die Prothesen ab, an denselben Platz neben dem Bett – den Anfangspunkt jedes neuen Tages. Manchmal fährt er noch durch die nächtliche Stadt. „Ich muss in Bewegung bleiben, sonst bleibe ich innerlich stehen“, sagt er.
Früher lief er viel zu Fuß. Heute entdeckt er die Welt hinter dem Steuer, legt Hunderte Kilometer zurück, hält an, um die Landschaft zu sehen. „Depression ist eine Frage der Perspektive. Man kann eine Liste mit fünfzig Dingen machen, die ich nicht kann. Aber ich entscheide mich für die Liste dessen, was ich tun kann.“
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hatten wir geschrieben, dass Oleh Symoroz 38 Jahre alt sei. Er ist aber erst 28 Jahre alt. Wir haben das korrigiert und bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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