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Folgen der Ein-Kind-Politik: Was das alte Rom China über demografischen Kollaps lehren kann
Nach Jahrzehnten der Ein-Kind-Politik steht Chinas Führung vor einem Problem, das historische Ausmaße annehmen könnte – wie ein Blick in die Geschichte zeigt.
Stand:
Am 28. Juli machte China eine dramatische Kehrtwende – und kündigte eine neue monatliche Kinderbetreuungsbeihilfe in Höhe von 300 Yuan (36 Euro) für Kinder unter drei Jahren an. Ziel dieser Maßnahme ist, die Geburtenrate des Landes anzukurbeln, während noch vor wenigen Jahren Familien für „nicht genehmigte Geburten“ eine Geldstrafe im Umfang des Drei- bis Zehnfachen des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens zahlen mussten.
Chinas derzeitige demografische Herausforderungen und die politischen Antworten darauf ähneln auffallend jenen des alten Roms, wo jede Frau, die die Menopause erreichte, zur Aufrechterhaltung der Bevölkerungszahl zwischen fünf und sieben Kinder hätte gebären müssen. Doch trotz dieses Defizits praktizierten die Römer aktiv Eugenik. Weibliche Säuglinge waren einem deutlich erhöhten Tötungsrisiko ausgesetzt gegenüber männlichen. Der resultierende Frauenmangel verstärkte den Bevölkerungsrückgang.
Auch China hat sich auf ein Experiment zur Bevölkerungskontrolle eingelassen und von 1980 bis 2015 (unter dem eugenisch angehauchten Slogan „weniger, aber bessere Geburten“) eine Ein-Kind-Politik eingeführt. Offizielle Daten aus den Jahren 1980 bis 2020 zeigen, dass 369 Millionen Abtreibungen durchgeführt wurden – einige davon gewaltsam. Allein im Jahr 2020 endeten 43 Prozent aller Schwangerschaften mit einer Abtreibung.
Wie im alten Rom wurden auch in China unverhältnismäßig viele weibliche Föten abgetrieben. Bei der Volkszählung 2010 wurden pro 100 Mädchen im Alter von null bis neun Jahren landesweit 119 Jungen registriert. In Orten wie dem Kreis Jishui in der Provinz Jiangxi lag das Verhältnis sogar bei 163 Jungen pro 100 Mädchen.
Dieses Geschlechtergefälle hat langfristige demografische Folgen: Die Zahl der Erstheiraten ist zwischen 2013 und 2024 um 61 Prozent zurückgegangen. Und dieser Trend dürfte sich fortsetzen, da die Zahl der Frauen im Alter von 20 bis 34 Jahren – der Altersgruppe, die für 85 Prozent der chinesischen Geburten verantwortlich ist – bis 2050 um die Hälfte zurückgehen dürfte.
Um den Geburtenrückgang zu bekämpfen, führte der erste römische Kaiser Augustus pronatalistische Reformen ein, belohnte Eltern und bestrafte unverheiratete, kinderlose Bürger. Doch Roms Elite, die sich primär auf Sklavenarbeit und weniger auf familiäre Mitarbeit stützte, hatte wenig Anreiz, Kinder großzuziehen.
Im modernen China hat die staatliche Sozialversicherung allmählich die traditionellen wirtschaftlichen Funktionen der Familie ersetzt und damit die Anreize für das Kinderkriegen verringert.
Die Rolle der Urbanisierung
Die von Sklaven angetriebene Wirtschaft Roms erreichte einen Urbanisierungsgrad von 25 bis 30 Prozent. Das ist vergleichbar mit dem Chinas in den 1990er Jahren, als die Geburtenraten rapide zurückgingen. Die städtische Überfüllung belastete die Infrastruktur des antiken Roms und trieb die Wohnkosten in die Höhe, was einen tiefgreifenden Wandel der sozialen Werte und Lebensstile auslöste. „Kinder waren nun ein Luxus, den sich nur die Armen leisten konnten“, so der amerikanische Historiker Will Durant.
Während mehr als zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung in städtischen Gebieten leben, macht der bebaute Teil der Städte nur 0,65 Prozent der Gesamtfläche des Landes aus, was auf die strengen Beschränkungen für die städtische Expansion zurückzuführen ist. Das Ergebnis ist eine außergewöhnlich hohe städtische Bevölkerungsdichte, die mit der des alten Rom vergleichbar ist.
Nach Jahrzehnten der Ein-Kind-Politik ist auch China so etwas wie ein „kinderloser Staat“ geworden. Bis 2023 war die nationale Geburtenrate auf 1,0 Geburten pro Frau gesunken, und in fast der Hälfte der Bezirke Schanghais auf 0,4 Geburten.
Angesichts finanzieller Probleme, ausländischer Invasionen und zunehmender administrativer Herausforderungen spaltete sich das Römische Reich 395 n. Chr. in zwei Teile. Das von einer schweren demografischen Krise geplagte West-Reich war zur Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Militär auf Einwanderer angewiesen. Da es jedoch nicht gelang, diese zu integrieren, brach es 476 n. Chr. zusammen und läutete damit das Mittelalter in Europa ein. Das durch höhere Geburtenraten und größeren Reichtum gestützte byzantinische Ost-Reich überdauerte weitere tausend Jahre.
Das Römische Reich hat mehr gegen seinen demografischen Niedergang unternommen, als die chinesischen Behörden heute zu tun bereit zu sein scheinen, aber es konnte sich trotzdem nicht retten. Und China steht zusätzlich vor Herausforderungen, mit denen Rom nie zu kämpfen hatte, wie weit verbreitete Empfängnisverhütung, einem steigenden Gebäralter und in Renten und Altenpflege statt in die Unterstützung von Familien und Kindererziehung fließenden Ressourcen.
Gelingt es nicht, diesen Trend umzukehren, so könnte der demografische Rückgang zu etwas führen, was an den Zusammenbruch des Römischen Reiches erinnert.
(Aus dem Englischen von Jan Doolan; Copyright: Project Syndicate, 2025.)
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