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Netanjahu wird zwischen den Fronten aufgerieben.

© afp/Jack Guez

Eskalierter Streit um Israels Justizreform: Netanjahu bleibt Gefangener seiner Koalition

Es wirkt wie ein Kompromissangebot: Israels Premier will den umstrittensten Punkt der Justizreform nun streichen. Doch Netanjahu hat sich längst den Extremisten ausgeliefert.

Ein Kommentar von Tilman Schröter

Es wirkt auf den ersten Blick wie die Bereitschaft zum Kompromiss, was Israels Premierminister Benjamin Netanjahu im „Wall Street Journal“ ankündigt. Den umstrittensten Punkt der von seiner rechts-religiösen Regierung angestrebten Justizreform – die De-facto-Entmachtung des Obersten Gerichts durch das Parlament – wolle er streichen, sagte er der amerikanischen Zeitung.

Dennoch zeigen die schnellen und empörten Reaktionen seiner politischen Bündnispartner vor allem eines: Netanjahu ist ein Gefangener seiner Regierungskoalition, die er braucht, um seine Justizprobleme von sich fernzuhalten – und wird zugleich zwischen den Extremisten, mit denen er regiert, dem öffentlichen Druck und dem der Amerikaner aufgerieben.

Seit Wochen ist Israel in Aufruhr, das Land extrem polarisiert. Hunderttausende gehen immer noch auf die Straße, um zu protestieren. Es ist eine Koalition unterschiedlichster Gruppen der israelischen Gesellschaft, die hier zusammenkommt – inklusive Angehöriger des Militärs.

Opposition von der Angst vor einer Diktatur geeint

Sie alle haben eines gemeinsam: Die Sorge, dass ihr Land zu einer rechts-religiösen Diktatur wird. Es ist inzwischen eine kritische Masse entstanden, die Netanjahu nicht ignorieren kann. Israels Präsident Jitzchak Herzog sorgt sich so sehr um den Frieden im Land, dass er vor einem Bürgerkrieg warnt.

Doch nicht nur die Straße muss Netanjahu fürchten. Auch wenn er, wie er selbst im „Wall Street Journal“ betonte, US-Präsident Joe Biden seit 40 Jahren kennt und diesen als großen Israel-Freund bezeichnete, können ihm die Signale aus Washington nicht entgangen sein.

Er ist bislang noch nicht ins Weiße Haus eingeladen worden, Biden hatte sich wegen der umstrittenen Justizreform im Frühjahr deutlich von Netanjahu distanziert. Die Amerikaner sehen die Entwicklungen in Israel mit großer Skepsis – eine weitere Verschlechterung der Beziehungen kann sich Netanjahu nicht leisten.

Sein Interview in einer amerikanischen Zeitung – israelischen Medien gibt er so gut wie nie Interviews – zeigt, dass er den Unmut und die Warnungen aus Washington über seine zunehmend totalitär auftretende Regierung registriert. Israel ist abhängig von der Unterstützung der USA.

Trotzdem bleibt Netanjahus oberste Priorität der Koalitionsfrieden. Er wird nicht verhindern können, dass die Agenda seiner rechts-religiösen Koalition fortgesetzt wird. Gerade genehmigte seine Regierung zum Entsetzen der internationalen Gemeinschaft den Bau von Tausenden weiteren Siedlungen im Westjordanland.

Zwar sagte er dem „Wall Street Journal“, dass die Opposition unter so großem politischen Druck gewesen sei, dass sie sich bei der Justizreform nicht auf die kleinsten Kompromisse hätte einlassen können. In Wirklichkeit ist es andersrum.

Netanjahu kann sich nicht das kleinste Einlenken erlauben, wie man etwa an der Reaktion des rechtsextremen Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, sieht. Der bezichtigt Netanjahu, vor der Protestbewegung zu „kapitulieren“.

Es zeigt sich nun das, was viele Beobachter nach den vergangenen Wahlen vorausgesagt haben: Netanjahu hat ein Bündnis mit unberechenbaren extremistischen Elementen geschlossen, um einer Verurteilung wegen Korruption zu entgehen. Dass seine rechts-religiösen Partner ihre Projekte vorantreiben, kann nicht verwundern.

Aber Netanjahu muss als Premier auch die Stimmung im Volk beachten. Das könnte ein Motiv für die Ankündigung sein, den umstrittensten Punkt der Justizreform zu kippen – vorerst allerdings nur mit Worten. Ein Auseinanderbrechen seiner Koalition kann er sich nicht leisten. Das Volk und die USA gegen sich weiter aufzubringen auch nicht. So bleibt Netanjahu ein Getriebener.

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