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50 Jahre Diktatur des Assad-Clans sind beendet. Von einem Sieg ist Syrien jedoch weit entfernt.

© AFP/OZAN KOSE

Zwischen Rache und Versöhnung: Syriens Kampf um Frieden und Freiheit beginnt erst

Der Diktator ist gestürzt. Doch wenn der Jubel verhallt ist, beginnt der Kampf der Syrer um ihr Land erst richtig. Es gibt nur einen Weg zum Frieden. Es ist der schwierigste und unwahrscheinlichste.

Sidney Gennies
Ein Kommentar von Sidney Gennies

Stand:

Es sind die Worte, die die Welt hören will. „Die Menschen sind vom Krieg erschöpft“, sagt Mohammad al-Dscholani, der Anführer der Islamisten, die das Assad-Regime gestürzt haben. „Das Land ist also nicht bereit für einen weiteren und wird auch nicht in einen weiteren geraten.“

Geflohene Syrer ruft er zur Rückkehr auf. Der mit seinem Segen eingesetzte Chef der Übergangsregierung, Mohammed al-Bashir, verspricht seinem Volk „Stabilität und Ruhe“.

Es klingt zu schön, um wahr zu sein. Weil es wohl nicht wahr ist.

Syrien hat seinen brutalen Diktator Baschar al-Assad abgeschüttelt. Mithilfe unterschiedlichster Milizen, die nur durch den Hass auf ein Regime geeint wurden, das nun nicht mehr da ist.

Angeführt von einem Islamisten, dessen Kämpfer sich nicht für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Schlacht geworfen haben, sondern um in einem multi-ethnischen, multireligösen Land einen Gottesstaat zu errichten.

Der neue starke Mann in Syrien, al-Dscholani, mag sich gerade als gemäßigt und pragmatisch inszenieren. Doch selbst, wenn er es ernst meinte, wer soll glauben, dass seine Kämpfer ihm folgen werden?

Kaum ein Land ist so vom Hass zerfressen

Wahr bleibt: Es gibt einen Weg zu Freiheit und Ruhe. Es ist der schwierigste und leider der unwahrscheinlichste. Es ist der Weg der Versöhnung.

Wenige Länder der Erde sind so von Hass und Zorn zerfressen wie Syrien. Es ist schwierig genug, die Wunden, die die jahrzehntelange Herrschaft des Assad-Clans hinterlassen hat, zu heilen. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur bleiben die Menschen, die in ihr gelebt haben.

Bleiben Täter, Opfer, Mitläufer, die sich nun auf den Straßen wieder begegnen. Selbst auf den Ämtern, denn auf die Schreibtischtäter kann auch die Übergangsregierung nicht verzichten, will sie den Staat am Laufen halten.

Da ist von den tatsächlichen Folterknechten Assads noch nicht einmal gesprochen. Werden sie gelyncht? Wird ihnen der Prozess gemacht? Viele Syrer sind noch immer auf der Suche nach ihren Angehörigen, die einst in Assads Gefängnissen verschwanden, litten, starben.

Die Stunde der Islamisten

Aufarbeitung, Versöhnung, braucht einen schier unzumutbaren Willen und Jahrzehnte. Das zeigen die Beispiele der Geschichte, von der deutschen Nachkriegszeit über die Roten Khmer in Kambodscha bis zum Genozid in Ruanda.

Ist das syrische Volk willens? Sind es die neuen Machthaber?

Die Menschen in Aleppo feiern weiterhin die Befreiung vom Assad-Regime.

© AFP/OZAN KOSE

Die Aufarbeitung der Assad-Herrschaft ist nicht Syriens einziges Hindernis auf dem Weg der Versöhnung. Der Iran hat das Land mit tausenden Kämpfern aus Afghanistan geflutet, Drusen, Alawiten, Schiiten, Sunniten, Kurden werden im befreiten Syrien um die neue Ordnung ringen. Viele alte Rechnungen sind offen. Assad selbst gehörte der alawitischen Minderheit an, Christen standen unter seinem Schutz. Nun schlägt die Stunde der sunnitischen Islamisten.

Wird es die Stunde der Vergeltung oder der Versöhnung?

Das Volk spricht erstmals mit

Nicht alles hat das syrische Volk selbst in der Hand. Im Norden wird die Türkei ihren Einfluss ausbauen wollen und die von ihr verhassten Kurden in Schach halten wollen. Vom Süden her bombardiert Israel das, was vom syrischen Militär übrig ist.

Der Iran wird, nach dem Abzug der Hisbollah-Milizen, das Machtvakuum im Land auf andere Weise für sich zu nutzen versuchen, die Russen ihre Militärbasen nicht aufgeben wollen. Syrien bleibt ein Spielball externer Mächte.

Doch zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat das syrische Volk überhaupt eine Chance, die eigene Zukunft zu gestalten. Das ist der berechtigte Kern der großen Freude, die sich überall auf der Welt in den vergangenen Tagen Bahn gebrochen hat. Es ist die große Hoffnung.

Wie groß ist die wirklich? Die ersten Anzeichen sind nicht gut. Gleich nach Sturz des Regimes kündigten die Rebellen an, Listen von Assads Folterknechten zu veröffentlichen, sie zu enttarnen. Es ist eine offene Einladung zur Rache.

Die Chance auf ein neues, ein besseres Syrien ist nicht verloren. Noch nicht. Doch der Weg zu Freiheit, Ruhe und Stabilität ist noch weit. Falls sich denn überhaupt jemand auf den Weg macht.

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