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Fußball, Frauen, EM, Deutschland - Frankreich, Finalrunde, Halbfinale, Stadium MK. Deutschlands Alexandra Popp (l) bejubelt ihr Tor zum 1:0.

© picture alliance / picture alliance/Sven Simon

Interviews mit Fußballern: Spitzen am Spielfeldrand

Die Linguistin Antje Wilton fand heraus: Zu Ausrastern und sprachlichen Entgleisungen kommt es vor allem, wenn Journalistinnen und Journalisten ungeschriebene Regeln brechen.

Von Jonas Krumbein

Über Interviews mit Fußballern kann Antje Wilton lustige Anekdoten erzählen. Denn die Professorin für englische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Soziolinguistik an der Freien Universität Berlin hat sogenannte Spielfeldrand-Interviews mit Profifußballern in England und Deutschland untersucht – und dabei besonders nach Zweck und Stilmitteln solcher Interviews gefragt, die Fans und Journalisten oft als belanglos kritisieren.

Für ihre Antworten sammelte Wilton online verfügbare Aufzeichnungen von Interviews mit männlichen Fußballprofis, ließ relevante Gestik, Mimik und Stimmlage erfassen und die Gespräche verschriftlichen. Ihr Befund: Spielfeldrand-Interviews sind ein hochgradig konventionsgeleitetes Genre, das von formelhaftem Sprechen geprägt ist. Klassische Beispiele seien Reporterfragen wie „Habt ihr heute verdient gewonnen?“, die von Spielern – im Anschluss an eine Nacherzählung des Spielverlaufs – als Resümee aufgegriffen würden: „Ich würde sagen, über die gesamten 90 Minuten haben wir heute verdient gewonnen.“

Im Gespräch mit erschöpften Profis sind Empathie und Fingerspitzengefühl gefragt

Doch auch ein an sich harmloses Spielfeldrand-Interview kann eskalieren – und dafür genügt oft eine einzige Frage eines Reporters, der die ungeschriebenen Regeln des Genres bricht, wie Antje Wilton beobachtet hat. Gefragt nach dem Grad seiner Enttäuschung über eine Niederlage etwa sprach der eigentlich als umgänglich geltende Jonas Hector vom 1. FC Köln von einer „Scheißfrage“. Und auch Real-Madrid-Star Toni Kroos nahm Reporterfragen nach Schwierigkeiten der Königlichen im Champions-League-Finale 2022 zum Anlass für Journalistenschelte: „Du hattest 90 Minuten Zeit, Dir vernünftige Fragen zu überlegen, dann stellst Du mir zwei so Scheißfragen – das ist Wahnsinn“, herrschte Kroos einen sichtlich verdutzten ZDF-Reporter an.

Was für Zuschauerinnen und Zuschauer nach Ausrastern kritikentwöhnter Profis aussieht, die zur Belustigung vor allem in sozialen Medien einladen, sind für die Linguistin Antje Wilton letztlich nachvollziehbare Reaktionen von Spielern auf Reporterinnen und Reporter, die meist ohne Provokationsabsicht aus der Rolle gefallen seien. Denn die Aufgabe eines Reporters am Spielfeldrand bestehe weniger in konfrontativ-kritischer Aufarbeitung des gerade erst Geschehenen und noch kaum Reflektierten, sondern vor allem darin, den Profis eine Bühne zu bauen: Die Spieler sollten ihre Sicht auf das Spiel darlegen und – noch gezeichnet von der körperlichen Anstrengung des Spiels, gerötet und verschwitzt – die Zuschauenden vor den Bildschirmen in das Geschehen einbeziehen.

Finale Freude. Durch das 1:0 gegen Argentinien in der Verlängerung wurden die deutschen Fußballmänner 2014 Weltmeister.
Finale Freude. Durch das 1:0 gegen Argentinien in der Verlängerung wurden die deutschen Fußballmänner 2014 Weltmeister.

© picture alliance/empics

Zielen Suggestivfragen wie „Wie enttäuscht sind Sie?“ auf den persönlichen Erfahrungsraum von Profis, könne es zu Ausrastern wie jenen von Jonas Hector kommen, konstatiert Antje Wilton. „In dem Fall hat der Reporter unterstellt, dass Jonas Hector enttäuscht sein muss“, verdeutlicht die Linguistin. „Und damit letztlich eine Bestätigung oder gar Demonstration dieser Enttäuschung für das Medienpublikum eingefordert.“

Mit seiner „degree-Frage“, wie Antje Wilton Fragen nach dem Grad von Spielfeldrand-Emotionen nennt, war der Reporter zu weit gegangen – und hätte nach Beobachtung der Linguistin statt eines Ausrasters bestenfalls auf eine belanglose Antwort hoffen dürfen: „Natürlich ist man nach einer Niederlage enttäuscht“, hätte etwa ein beherrschter Jonas Hector antworten können. „Damit hätte der Spieler signalisiert, dass die Frage gar nicht hätte gestellt werden müssen, da klar sein sollte, dass sich Sportler nach einer Niederlage leer fühlen und dass Siege sehr wichtig sind“, sagt Antje Wilton.

Reporterinnen und Reporter in England und Deutschland fragen unterschiedlich

Die Linguistin spricht damit die zentrale Herausforderung bei Spielfeldrand-Interviews an und bringt das Dilemma des Genres auf den Punkt: „Weil alle Beteiligten – Spieler, Reporter und Medienpublikum – das Spielgeschehen kennen, gibt es in solchen Interviews selten Neues zu berichten. Dem Reporter oder der Reporterin bleibt somit nur ein kleiner Bereich, zu dem Spieler plausibel befragt werden können, und das ist eben die persönliche Erfahrung des Spielers.“

Um dabei Fingerspitzengefühl und kooperative Atmosphäre zu wahren, sei das in Deutschland gebräuchliche hierarchische Frage-Antwort-Schema zwischen Reporter und Profi womöglich weniger geeignet als die in England verbreitete Form der Konversation, wie Antje Wilton anmerkt. Dort würden Profis oft zu zweit vor die Kameras gebeten. Statt Fragen zu stellen, gäben Reporterinnen und Reporter in England meist Statements ab, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Das war ja eine klasse Leistung heute“, heiße es dann etwa zum Einstieg.

Wenig Freude machen Toni Kroos – das Bild zeigt ihn 2021 im EM-Achtelfinale England-Deutschland – oftmals Interviews nach dem Spiel.
Wenig Freude machen Toni Kroos – das Bild zeigt ihn 2021 im EM-Achtelfinale England-Deutschland – oftmals Interviews nach dem Spiel.

© sampics/picture aliance / Stefan Matzke

Womöglich hätte Anerkennung für den mühsam erkämpften Champions-League-Sieg auch Real-Madrid-Spieler Toni Kroos gar nicht erst in negative Wallung geraten lassen. Die unkonventionell-kritische Reporterfrage nach Schwierigkeiten im doch schließlich gewonnenen Finale jedenfalls fand der Deutsche „in so einem speziellen Moment viel zu wenig empathisch“, wie Toni Kroos später in seinem Podcast „Einfach mal Luppen“ erklärte. Der Real-Star gab weiterhin an, nichts gegen kritische Fragen zu haben, lehnte eine Entschuldigung bei dem Reporter aber auch mit einigen Tagen Abstand ab: „Vielleicht hätte man das Wort ,Scheißfrage‘ weglassen können“, sagte Toni Kroos immerhin und fügte scherzhaft an: „Man hätte es bei ,Drecksfrage‘ belassen können.“

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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