zum Hauptinhalt
„Beweinung am Kreuz“ aus dem Jahr 1921 von Elisabeth Voigt.

© Museum der bildenden Künste Leipzig

Serie „Mein Glücksmoment“ (3): Einem Bild über die Zeiten hinweg plötzlich sehr nah

Nicola Kuhn macht eine gemeinsame Entdeckung im Leipziger Museum der bildenden Künste.

Nicola Kuhn
Eine Kolumne von Nicola Kuhn

Stand:

Das Jahr war geprägt von Terror, Kriegen und Zerwürfnissen. Wir suchen nach dem kleinen Glück, das das Unglück eine Spur erträglicher macht.

Glücksmomente sind für mich mit gemeinsamen Erlebnissen verbunden: einem Regenspaziergang im Park von Weimar, einem Konzert in der Philharmonie oder Diskussion mit Freunden nach einer Vorstellung in der Theaterkantine.

Ein solcher Moment schlich sich unversehens beim Besuch im Leipziger Museum der bildenden Künste ein, als ich mit dem Leipziger Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich und der Berliner Fotokünstlerin Sabine Schirdewahn durch die Galerien tändelte: hier etwas schauen, dort vor einem Bild stehen bleiben.

Plötzlich packte es uns alle Drei. Da hing zentral an der Schmalseite eines Saals ein expressionistisches Hochformat, an dem wir gewiss ansonsten vorbeigelaufen wären, so krude erscheint es auf den ersten Blick: eine „Beweinung am Kreuz“ von Elisabeth Voigt aus dem Jahr 1921.

Paarweise scharen sich acht Engel um den Gekreuzigten, die vorderen beiden im roten Kleid, das nächste Paar in braun, die beiden dahinter in blau und die beiden direkt zu Füßen Christi in schwarzen Gewändern. Melodramatisch recken sie die Hände zum Himmel, greifen sich verstört an die Stirn oder öffnen schluchzend die Münder.

Die Szene ist vollkommen surreal: Im Hintergrund umschließen Häuser kreisartig das Geschehen, Lichtlinien entspringen wie ein vergrößerter Heiligenschein dem Kreuz. Pate stand der Isenheimer Altar.

Umso länger wir Drei davorstehen, umso mehr Details entdecken wir - wie die mittelalterlich penibel gemalten Blumen vor dem Kreuz oder die sich berührenden großen Zehen eines knieenden Engels. Unsere Begeisterung für das Werk wächst, das vor vier Jahren aus dem Depot geholt wurde, nachdem der damalige Direktor dafür kritisiert worden war, die Bestandsarbeit zu vernachlässigen.

immer mehr Details springen ins Auge

Mit Elisabeth Voigt erhöhte er nicht nur die Frauenquote, sondern würdigte er außerdem eine außergewöhnliche Künstlerin, deren Nachlass sich im eigenen Archiv befindet. Auch die „Beweinung“ wurde 1980, drei Jahre nach dem Tod der Leipziger Malerin, vom Rat der Stadt erworben.

Vermutlich tat man sich damals schwer mit dem christlichen Motiv, das nun wieder hängen darf. Überhaupt muss Elisabeth Voigt eine schwierige Figur für den Kunstbetrieb der DDR gewesen sein. 1953 geriet sie in den Formalismusstreit, fünf Jahre später verließ sie den Künstlerverband. Als Schülerin von Kollwitz und Karl Hofer aber blieb die langjährige Dozentin der heutigen Hochschule für Grafik und Buchkunst geschützt und wurde 1974 als Ehrenmitglied des Künstlerverbands rehabilitiert.

Natürlich hätten uns Drei diese biografischen Details interessiert, so erratisch wie die „Beweinung“ da an der Galeriewand hängt. Aber uns zog das Bild selbst in den Bann und ließ uns den Glücksmoment spüren, einem Werk sehr nahe zu sein, auch wenn es aus der Zeit gefallen schien.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })