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Marcel Proust (1871-1922), hier auf einer Aufnahme um das Jahr 1906 herum.

© imago/Leemage

150 Jahre Marcel Proust: Ernst Robert Curtius' Essay über Proust in einer Neuauflage

Neue Harmonie: Wie der Romanist Ernst Robert Curtius als einer der ersten in Deutschland 1925 Prousts Großwerk kongenial analysierte.

Es war in den ersten Märztagen des Jahres 1922, als Marcel Proust sich bei dem deutschen Romanisten und Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius für einen langen, lobenden und klugen Artikel über seine „Suche nach der verlorenen Zeit“ bedankte.

Ein paar Wochen später antwortete Curtius und teilte Proust seine Freude über dessen Brief und abermals über die „Recherche“ mit: „Die Lektüre ihrer Bücher gehört für mich zu den reinsten und größten geistigen Freuden, die mir die letzten Jahre gebracht haben. (...) Ich bewundere diese Verbindung von unerschöpflichem Lebensreichtum und souveräner geistiger Helligkeit.“

Nachlesen kann man diese Korrespondenz, die noch jeweils einen weiteren Brief beider beeinhaltet, in dem dieser Tage vom Frankfurter Schöffling Verlag als Buch veröffentlichten Essay von Curtius (200 S., 24 €.), der erstmals drei Jahre nach Prousts Tod in Deutschland in der Sammlung „Französischer Geist im Neuen Europa“ erschien.

Die Lektüre dieses Essays ist ein Genuss

Curtius war einer der ersten deutschen Kritiker, der sich intensiv mit der „Recherche“ auseinandersetzte und sie kongenial analysierte – obwohl schon nach der Veröffentlichung des ersten Bandes 1913 der stets zartfühlende Dichter Rainer Maria Rilke seinen Verleger auf dieses „sehr bedeutende Buch“ hinwies, das unbedingt ins Deutsche übersetzt gehöre.

Das wiederum erwähnt der Berliner Schriftsteller Michael Kleeberg in seinem schön instruktiven Nachwort, in dem er auch die Vita des 1886 im Elsass geborenen Literaturwissenschaftlers kurz vorstellt und seinen eng mit dem französischen Schriftsteller verbundenen Nachruhm auf den Punkt bringt: „Curtius gehörte zu Proust, alles, was an ihm nicht zu Proust gehörte, war weggeschmolzen in der verlorenen Zeit.“

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Tatsächlich ist es größtenteils ein Genuss, diesen Essay zu lesen, ganz anders als beispielsweise Adornos Notizen über das Suchtpotential von Proust.

Klar, verständlich, manchmal elegant, bisweilen pathetisch, kunstreligiös und unter Verwendung einiger altertümlicher, der damaligen Zeit geschuldeter Formulierungen, interpretiert Curtius die „Recherche“. Das macht er, wenn man so will, in einer Art Tandem-Verfahren: zu Kunst und Erkenntnis, Vergänglichkeit und Erinnerung, Zeit und Raum, Klassizismus und Ästhetizismus oder Intellektualismus und Impressionismus.

Curtius verzichtet auf biografische Lesarten

Am schönsten und lohnendsten ist vielleicht die Auseinandersetzung mit Prousts Sprache und Stil, seinen langen Sätzen, seinen Satzrhythmen. 

Curtius bezeichnet letztere als „eine neue Harmonie“, an die man sich erst gewöhnen müsse, zitiert einen dieser Sätze und beschreibt ihn: „Dieser ganze Satz schwingt sich auf, wiegt sich, senkt ruckweise, um mit lange aufgespeicherter Energie schließlich brutal vorzustoßen und ins Herz zu treffen. Und die besondere Schönheit dieses Satzes ist, dass er zugleich Bild und Spiegelbild und die Spiegelungen des Spiegelbilds gibt.“

Bemerkenswert ist auch, dass Curtius, der den letzten Band der „Recherche“ nicht kannte, nur sporadisch und wenn es wirklich notwendig ist, die Biografie Prousts mit dem Werk abgleicht. Weshalb womöglich mancher Aspekt fehlt, zum Beispiel die Haltung des Erzählers zum Judentum.

Doch so interessant und aufschlussreich biografische Lesarten sind: Vor dem sowieso unspektakulären Leben Marcel Prousts kommt immer die Lektüre seiner Bücher. Vergnügen und Erkenntnis lassen sich allein daraus enorm viel ziehen.

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