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"An Stumpfsinnigkeit kaum zu überbieten", schreibt der Abriss-Atlas zu diesem Neubau an der Yorckstraße.

© Kitty Kleist-Heinrich

Abriss-Atlas Berlin: Ist das Architektur? Nein, das kann weg

Hoffnung für Freunde eines besseren Städtebaus: Der Abriss-Atlas ist neu erschienen, mit Gebäuden, bei denen Hände-über-den-Kopf-schlagen nicht mehr hilft.

Zum Beispiel die Bautzener Straße: Ganz geräuschlos, wie ein Verkehrsunfall ohne Ton, ist an der Ecke zur Yorckstraße das aktuell hässlichste Bauwerk Berlins entstanden. Ein grauer, völlig fensterloser Block, Kopfbau eines neuen Wohngebiets, dessen Visitenkarte. Bunker statt Haus. Damit das Auge an den glatten Wänden überhaupt etwas zum Festkrallen hat, muss es Schrift richten. „More than a Gym“ steht da, und „Who are you“. Ohne Fragezeichen. Was nichts ändert an der Fragwürdigkeit dieses Anblicks. Die Lettern scheinen den Schmerz des Betrachters noch zusätzlich verspotten zu wollen.

Beim zweiten Hinsehen wird klar: Im Inneren ist ein Fitnessstudio, die Fassade durchsichtig – dumm nur, dass man das am Tag nicht sieht. Nachts zeichnen sich Fenster ab, schummrig, gespenstisch. Muss jemand für eine ganz tolle Idee gehalten haben. Man möchte die Bauarbeiter, die dort immer noch zu tun haben, packen und kräftig durchschütteln – wüsste man nicht, dass die am wenigsten dafür können. Schulterzucken reicht nicht mehr, auch kein entsetztes Hände-über-den- Kopf-Schlagen. Da hilft nur die Abrissbirne. Einstürzende Neubauten, bitte.

55 Tropfen aus den heißen Stein

Finden auch die Macher eines Buches, das jetzt in zweiter Auflage mit viel neuem Material erschienen ist: der „Abriss-Atlas“. Das graue (und grauenvolle) Haus in der Bautzener Straße ist eines von 55 Objekten in Berlin, die 14 Autorinnen und Autoren in kurzen, pointierten, radikal subjektiven Texten zum Abschuss freigeben. Natürlich nur polemisch, Bagger werden nicht anrücken. Es geht darum, Diskurs zu provozieren. Über das, was in Berlin seit dem Mauerfall entstanden, und vor allem, wie viel dabei schiefgegangen ist. Es geht darum, dass wir überhaupt reden über Stadt und wie sie aussehen soll. Die Texte drücken damit auch eine zornige Hilflosigkeit aus angesichts der Zumutungen, die überall in Berlin aus dem Boden sprießen. Es sind 55 Tropfen auf den heißen Stein.

Die erste Auflage hat einigen Wirbel verursacht und war schnell ausverkauft“, sagt Stephan Burkoff vom Verlag Mitte/Rand, der mit Jeanette Kunsmann den Abriss-Atlas herausgibt. Was ihn überrascht hat: Das Buch wurde weniger vom alternativen Kreuzberger oder Neuköllner Milieu gekauft als vom Charlottenburger Bildungsbürgertum. Ist das Spielen mit Abrissgedanken also konservativ, gar reaktionär, innovationsfeindlich? Der Umkehrschluss, dass neue Architektur allein durch ihre schiere Existenz fortschrittlich wäre, ist sicher ebenso falsch. Stephan Burkoff hat mit seiner Leserschaft kein Problem: „Durch wen, wenn nicht durchs Establishment, soll denn Veränderung kommen?“ Außerdem habe die zweite Auflage eine jüngere Zielgruppe, werde intensiv in Blogs und Newslettern diskutiert.

In Berlin sind fünf Jahre bekanntlich eine lange Zeit. Deshalb sind seit der ersten Ausgabe (2014) eine Menge neuer Abrisskandidaten hinzugekommen. Zur Arena am Ostbahnhof etwa und dem nach einem Autokonzern benannten Platz, der ununterbrochen „Hab’ Spaß“ zu brüllen scheint, stellt Kristine Heeresthal klar: „Stadien gehören typologisch an den Rand von Städten – aufgrund dessen, wie sie sich zur Umgebung verhalten: nämlich gar nicht. Sie sind qua Nutzung introspektiv. Abriss und Wiederaufbau in Brandenburg bitte.“ Oder die Europacity entlang der Heidestraße: „Globale Investoren- Dutzendware, Friedhof für Kreativität, eine vertane Chance von vielen“, meint Jörg Johnen – und dankt mit sattem Sarkasmus Senatsbaudirektorin Regula Lüscher.

Hat die Britische Botschaft den Brexit vorweggenommen?

Auch eigentlich sympathische Projekte kriegen ihr Fett weg. Der neue Möckernkiez, dessen gebaute Utopie in der Tat eine Enttäuschung ist: „Eine Genossenschaft, die sich selbst nichts gönnt, uninspirierte Wohnriegel mit traurig in den Rauputz eingesunkenen Normfenstern“, findet Sophie Jung. Kathrin Schömer schreibt über das Holzmarkt-Dorf an der Spree: „Schon seit dem ewig hinausgezögerten Exitus der Bar 25 war klar, dass die Baugruppe der Business-Hippies zumindest eine Partytugend nicht draufhat: Man soll gehen, wenn es am schönsten ist.“ Alter schützt vor Abriss nicht: Auch Siegessäule, Brandenburger Tor, Berliner Dom oder die Gartenstadt Tempelhof („So viel Reihenhaus-Spießigkeit in bester Lage ist trotz der abschreckenden Wirkung nicht zu rechtfertigen“) stehen auf der Liste. Die Britische Botschaft, die sich in der Wilhelmstraße verschanzt, kann ebenfalls weg; interessant ist in diesem Zusammenhang die Überlegung, ob deren Schießscharten-Architektur womöglich geistig den Brexit vorweggenommen hat.

Übrigens wird ja abgerissen in Berlin, nur leider oft das Falsche. Deshalb enthält die zweite Auflage einen Nachruf auf Gebäude, die es wert gewesen wären: der Pavillon von Robben & Wientjes in der Prinzenstraße, wo Generationen von Neuberlinern ihren Umzugswagen abholten, das Ahornblatt, die Ku’damm-Bühnen. Der Atlas reagiert auf das Aussterben der Brachen, die das Leben im Nachwende-Berlin so einzigartig gemacht haben. Brachen haben Lungenfunktion, mit ihrer Hilfe atmet und „träumt“ eine Stadt, wie Architekturtheoretiker Stephan Becker in einem Essay schreibt – den man jetzt, in der zweiten Auflage, nur noch mit Melancholie lesen kann. Denn wie lange ist 2014 schon wieder her. Seit das globale Kapital Berlin für sich entdeckt hat, schraubt sich die Preisspirale in Höhen, in denen nur noch wenige atmen können. Es wird eng in Berlin, und wenn hier noch Träume blühen, dann die von Investoren. Abriss würde das Korsett etwas lockern, aber natürlich nur scheinbar. Denn Brachen sind ihrem Wesen nach temporär, in jeder ist der potenziell nächste Entwicklungssprung schon eingepreist. Deshalb, so die Logik, ist es so wichtig, ständig neue zu schaffen.

Die Abrissforderungen dieses Buches sind nur scheindestruktiv. Eigentlich soll ja Neues entstehen, engagierte Gespräche über Städtebau nämlich. Die sind bitter nötig. Denn so, wie viele Berliner heute von den urbanen Räumen profitieren, die in der Gründerzeit geschaffen wurden, entsteht jetzt die Architektur, die die Stadt in den nächsten 100 Jahren prägen wird.

Stephan Becker, Stephan Burkoff, Jeannette Kunsmann (Hg.): Abriss-Atlas Berlin, 2., überarbeitete Auflage, Verlag Mitte/Rand, Berlin 2018, 144 S., 24,90 €.

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