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Die österreichische Dokumentarfilmerin und Autorin Ruth Beckermann.

© imago/Seeliger

Anschlag in Wien: „Der Täter suchte die Nähe zur Synagoge, nicht zum Stephansdom“

Die Wiener Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann lebt im 1. Bezirk, dem Schauplatz des Attentats vom Montag. Ein Gespräch über den Schock - und den Mythos von Österreichs Multikulti-Hauptstadt.

Ruth Beckermann ist eine der wichtigsten europäischen Dokumentaristinnen. In ihren Arbeiten befasst sich die gebürtige Wienerin, Jahrgang 1952, mit den Lügen und Selbsttäuschungen der Nachkriegsgesellschaft, mit Antisemitismus und Rechtsruck. 2018 wurde sie auf der Berlinale für ihren Dokumentarfilm „Waldheims Walzer“ mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet.

Frau Beckermann, Sie wohnen in einer der Straßen, in denen der islamistische Attentäter am Montag unterwegs war und vier Menschen ermordete. Wie geht es Ihnen?
Es war ein Schock. Die Synagoge ist zwei Minuten von meiner Wohnung entfernt. Ich war zum Glück gerade unterwegs und saß im Filmmuseum in der Albertina. Danach war ich mit Freunden dort im Restaurant, es war ja der Abend vor dem Lockdown. Gegen 21 Uhr erfuhren wir, was geschehen ist. Die zweite Vorstellung im Filmmuseum wurde abgebrochen, makabrerweise lief ein Film über die Ermordung John F. Kennedys. Die Vorhänge im Restaurant wurden zugezogen, es war ein Gefühl wie auf der Titanic: Champagner und Schrecken. Um ein Uhr früh konnten wir wieder auf die Straße, aber da der gesamte 1. Bezirk abgesperrt war, habe ich bei Freunden übernachtet.

Zunächst bestand ja der Verdacht, dass der Anschlag der Synagoge galt. Dann wurde klar, Ziel des islamistischen Attentäters war die gut besuchte Kneipengegend.
In der Wiener Innenstadt gibt es überall Kneipen. Ich glaube, die Synagoge spielt eine wesentliche Rolle. Der Täter suchte nicht die Nähe zum Stephansdom, sondern zur Synagoge. Vielleicht war der Anschlag eigentlich zum Sabbat geplant und wurde wegen des Lockdowns vorgezogen – zum Glück war die Synagoge deshalb schon zugesperrt. Es kursieren viele Hypothesen und Spekulationen. In jedem Fall war es ein gut vorbereitetes Attentat, mit einer Waffe und Munition, die nicht leicht zu bekommen ist, und mit einer Sprengstoffgürtel-Attrappe zur Abschreckung.

Noch ist nicht klar, welchen Weg der Täter genommen hat und ob es angesichts der vielen Opfer in so kurzer Zeit nicht doch mehrere waren. Das Arge ist, dass der Täter auffällig war, er saß im Gefängnis und hat zum Beispiel im Sommer versucht, in Bratislava eine Waffe zu kaufen, was den österreichischen Behörden auch von ihren slowakischen Kollegen gemeldet wurde. Die österreichische Polizei und der Verfassungsschutz waren nicht in der Lage, ihn im Auge zu behalten oder die Dschihadisten-Gruppen im Netz zu beobachten.

Auf was für eine Gesellschaft trifft das Attentat? Wien hat den Ruf eines Schmelztiegels, einer Multikulti-Stadt seit K-.u.-k.-Zeiten.
Die Stadt hat den Nimbus einer Insel der Seligen, auch für uns Wienerinnen und Wiener. Aber es gab immer Attentate, etwa im Sommer 1981 auf die Synagoge in der Seitenstettengasse, wir vergessen das gerne. Es starben zwei Menschen. Trotzdem sagten wir nach den schrecklichen Anschlägen in Paris oder Nizza: Bei uns ist es ruhig. Dabei gibt es gerade in Wien viele Hinterhofmoscheen, die von der Türkei oder anderen Ländern bezahlt werden. Und Wien ist seit den Balkankriegen ein Treffpunkt für einschlägige Netzwerke.

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Eine Parallelgesellschaft?
Ich hatte im Frühjahr angefangen, einen Dokumentarfilm über acht-, neunjährige Kinder in einer der größten Volksschulen der Stadt mit 700 Kindern in Favoriten zu drehen, einem der Wiener Viertel mit hohem Ausländeranteil. Diese Kinder haben alle Migrationshintergrund. Ich unterbrach den Dreh wegen Corona. Als Dokumentarfilmerin will ich keine Menschen mit Masken zeigen, ich möchte die Gesichter sehen. Vor einer Woche liefen ebendort in Favoriten 30 türkische Jugendliche in eine Kirche und riefen „Allahu akbar“. Da sagten wir noch, okay, sie haben nur geschrien. Eine Woche später wurde auch bei uns geschossen.

Ein Beamter der österreichischen Militärpolizei bewacht den Tatort nach dem Terroranschlag nahe der Synagoge im Wiener Stadtzentrum.
Ein Beamter der österreichischen Militärpolizei bewacht den Tatort nach dem Terroranschlag nahe der Synagoge im Wiener Stadtzentrum.

© Matthias Schrader/dpa

Also doch keine Mentalität der Vielfalt?
In der Geschichte Österreichs und der Monarchie gab es auch Sarajewo. Auch Wien war nie konfliktfrei und blickt auf eine komplexe Geschichte von Zuwanderung, Ablehnung und Integration zurück. Der jetzige Attentäter ist Österreicher und Mazedonier. Und ich denke, der Anschlag hat einen internationalen Hintergrund. Für die Islamisten ist es zweitrangig, ob sie in Paris, Berlin oder Wien zuschlagen, es geht ihnen um die Bedrohung einer freien Gesellschaft mit anderen Wertvorstellungen. Es findet ein Kulturkampf statt.

Der Historiker Julien Reitzenstein schreibt in der „Welt“, Österreichs ungeschriebener Gesellschaftsvertrag sei historisch die Mischung aus „grantelndem Ablehnen und gleichzeitigem Ertragen“ des anderen. Ist dieser Vertrag aufgekündigt?

Wir haben schon lange eine starke rechtsextreme Partei, die bis vor kurzem auch in der Regierung saß. Wegen der Ibiza-Affäre um Heinz-Christian Strache ist die FPÖ derzeit zwar geschwächt, aber bei den Wiener Bürgermeisterwahlen am 11. Oktober warb sie mit riesigen Plakaten, auf denen zu dem  Spruch „Daham oder Islam“ ein blondes Kind mit dem Parteichef und auf der anderen Seite verschleierte Frauen zu sehen waren. Bloß weil der Sozialist Michael Ludwig die Wahl gewonnen hat, ist längst nicht alles in Ordnung. Die FPÖ betreibt massive Ausgrenzung, man darf nicht vergessen, dass sie bei der Wahl vor vier Jahren fast 30 Prozent der Stimmen erhielt. Wir haben eine hochkonfliktuelle Situation, die immer wieder aus dem Blick gerät, weil die FPÖ sich regelmäßig selbst demontiert, sei es, dass Jörg Haider sich zu Tode fährt oder Strache sich in den Skandal manövriert. Ihre Wähler existieren trotzdem.

Welche Rolle spielt Kanzler Sebastian Kurz? Seine Ansprache nach dem Attentat klang sehr vernünftig.
Er hetzt nicht gegen Muslime, aber er tut auch nicht viel für die Integration. Das Wahlrecht in den Bezirken wäre sehr wichtig; nur wer mitbestimmen darf, fühlt sich ernst genommen. Und wer fünf Jahre oder länger in Österreich lebt, müsste auch an den Kommunalwahlen in den Städten teilnehmen dürfen. Es müsste viel mehr Geld in die Bildung und die Sozialarbeit gesteckt werden, eben das tut die Regierung nicht. Auch das sozialistische Wien kommt dagegen nicht an: Bildung ist Bundessache.

Ist das Attentat eine Art Weckruf oder wird es die Spaltung vertiefen?
Beides, je nach Milieu. Die Covid-Krise zeigt, wie viele Leugner, Verschwörungstheoretiker und Verrückte es in der Gesellschaft gibt. Und wie gesagt, 2016 hat auch ein Drittel der Wiener die FPÖ gewählt. Diese Leute werden durch so ein Ereignis eher radikalisiert. Ich weiß nicht, was es bei türkischen Jugendlichen auslöst. Ich hoffe zumindest, es wird keine Nachahmer geben, das geschieht ja häufig bei solchen Anschlägen. Es ist eine gefährliche Situation.

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