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Arvo Pärt, der Komponist der Neuen Musik.

© Kristian Juul Pedersen/dpa

Arvo Pärt: Von Ewigkeit zu Ewigkeit

Trost für die Belgier: Arvo Pärt komponiert ein Stück für Jan van Eyck und den Genter Altar.

Es ist vielen Zufällen zu verdanken, dass die beiden sich noch getroffen haben. Arvo Pärt, der Komponist der Neuen Musik, der am 11. September 85 Jahre alt geworden ist, und Jan van Eyck, den sie in Flandern als den größten der Alten Meister 2020 mit einer großen Ausstellung in Gent gefeiert haben.

Das Meisterstück van Eycks, der Genter Altar aus dem 15. Jahrhundert, hat einen Krimi und eine Odyssee durch Europa hinter sich. Das aus zwölf teils beidseitig bemalten Tafeln bestehende Werk überlebte den protestantischen Bildersturm, die Französische Revolution sowie zwei Weltkriege und wurde um ein Haar in den letzten Kriegstagen auf Geheiß der Nazis in Österreich vernichtet.

Es ist ein Wunder, dass der Altar überhaupt noch existiert und der Komponist aus Estland sich von ihm inspirieren lassen konnte zu seinem neuesten Werk „Für Jan van Eyck“.

Das Stück für 40 Sänger und Orgel hat er im Auftrag der Stadt Gent zum 50-jährigen Jubiläum des weltberühmten Collegium Vocale Gent geschaffen. Die Uraufführung fand in der Sankt-Bavo-Kathedrale von Gent unter den Bedingungen statt, die derzeit die Pandemie diktiert.

Pärt durfte nicht aus dem Baltikum nach Flandern reisen, der Gründer und Leiter des Collegium, Philippe Herreweghe, musste statt der vollen Besetzung mit nur zwölf Sängern auskommen, jeweils drei Künstler pro Stimmlage.

Das haben die Zeitgenossen nötig gehabt

Leben und Musik des tief religiösen Komponisten und der Genter Altar, der seit Kurzem wieder in der Seitenkapelle ausgestellt wird, haben viele Berührungspunkte. Auch Pärt verschlug das Schicksal ins Exil. Weil er vor den sowjetischen Ideologen flüchten musste, zog er 1980 mit Frau und kleinen Kindern erst nach Wien und lebte schließlich bis 2011 in Berlin.

Ins Zentrum seines Schaffens stellt Pärt die göttliche Schöpfung. Im Mittelpunkt des Altars steht die Anbetung des Lamms Gottes als Symbol für den Opfertod von Jesus. Das Genter Lamm Gottes wurde erst kürzlich sensationell restauriert: Die Kunsthistoriker stellten fest, dass unter dem Gesicht des Lamms eine ursprüngliche Version war und legten es nach langen Debatten frei.

Seitdem meint der Betrachter, dass das sterbende Lamm ihm direkt in die Augen schaut und Mut zuspricht. Die idealisierte flämische Landschaft rund um das ausblutende Lamm zeigt einen Turm aus Utrecht, Kirchenfassaden und eine tröstlich grüne Parklandschaft.

Zuversicht, das haben die Zeitgenossen van Eycks im Mittelalter ebenso nötig gehabt wie die Belgier in der Pandemie. In der ersten Welle im Frühjahr hatte weltweit keine Nation so viele Tote zu beklagen – bezogen auf die Einwohnerzahl – wie das Zehn-Millionen-Land.

Und schon wieder gehen in dem 1830 gegründeten Pufferstaat zwischen der romanischen und germanischen Einflusssphäre die Ansteckungszahlen erschreckend schnell in die Höhe.

Belgien wählt konservativer

König Philippe und seine Gemahlin Mathilde, die bei der Uraufführung dabei waren, haben noch ganz andere Sorgen: Seit nunmehr anderthalb Jahren gelingt es dem Staatsoberhaupt des politisch auseinanderdriftenden Landes nicht, eine Regierung zu formen. Gerade ist wieder ein Versuch krachend gescheitert.

Nicht nur, dass die Parteienlandschaft zersplittert ist: Im flämisch dominierten Norden mit sechzig Prozent der Bevölkerung wählen die Menschen vor allem die Rechtskonservativen, im wallonisch dominierten Süden haben die sozialistischen Parteien den Wählerauftrag bekommen.

Im Land mit dem Sitz vieler EU-Institutionen verstehen sich die Sprachgruppen nicht mehr. Dabei wartet die schwer von der Krise getroffene Wirtschaft sehnsüchtig auf eine funktionierende Regierung, weil sie zum Überleben auf die Hilfsgelder angewiesen ist, die die EU auszahlen will.

Das Festival Gent fiel wegen Covid-19 aus

Philippe schlägt sich tapfer und ließ es sich nicht nehmen, nach Gent zu kommen, als jetzt endlich mit dem Konzert das Ende der aus Gründen der Hygiene verordneten Zeit der Stille in den Konzertsälen eingeläutet wurde. Das Festival Gent – ein Höhepunkt im Kulturleben des ganzen Landes – musste vor der Sommerpause komplett ausfallen. In der zweiten Jahreshälfte versucht die Festivalleitung nun, in kleinem Maßstab und Covid-19-sicher wenigstens einen Teil zu retten.

Der Ort für die Uraufführung dürfte Pärt zusagen: Gegenüber dem Portal der Sankt-Bavo-Kathedrale erhebt sich der mittelalterliche Bau des Belfrieds von Gent mit seinem Glockenspiel, das aus 54 Einzelglocken besteht. Pärt selbst nennt seine musikalische Sprache ja den „Glöckchen-Stil“, die aus Dreiklängen besteht, meditativ wirkt und Anleihen bei der Gregorianik macht.

Der große Dirigent Herreweghe hat für das Jubiläumskonzert seines Collegiums sieben Stücke ausgewählt, darunter auch je zwei Werke von Bruckner und Monteverdi sowie ein Solo-Stück von Messiaen für die meisterhaft von Maude Gratton gespielte Orgel. Auch „Annum per Annum“ von Pärt erklang, das er zum Jubiläum des Doms zu Speyer geschaffen hat.

Ein Wimpernschlag

Der Komponist schickte Grüße aus Estland: Er sei mit „Für Jan van Eyck“ wieder zum Thema des Agnus Dei zurückgekehrt. Anders als bei seiner Missa Syllabica und der Berliner Messe habe er sich diesmal gelöst vom liturgischen Konzept.

Das neue Stück sei zu verstehen als ebenso „solitäre wie demütige Verbeugung vor einem der größten Kunstwerke des christlichen Abendlandes und vor einem Künstler, der etwas für die Ewigkeit geschaffen hat“.

Die Sänger singen das Agnus Dei, die Orgel spielt spärlich dazu. Meist liegt nur der lang gehaltene Ton einer oder zweier Noten unter ihrem Gesang. Philippe Herreweghe hat international renommierte Solisten wie Jimmy Holliday, Benedict Hymas und Magdalena Podkoscielna verpflichtet.

Die spannende Frage, ob die Klänge bei voller Besetzung die große Intensität erreichen, für die Pärt so berühmt ist, können wohl einstweilen nur der Komponist und Herreweghe selbst beantworten. Nach nur vier Minuten ist die Huldigung Pärts für den alten flämischen Meister schon vorbei. Das ist ein Wimpernschlag – gemessen an der bald 600 Jahre langen Geschichte seines Meisterwerks.

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