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Drehort Bibliothèque Nationale de France in Paris. Im Film „Alles Wissen der Welt“ stoßen die Protagonisten auf einen verlassenen Lesesaal und leere Bücherregale.

© Fischer & el Sani und VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Filme von Fischer & el Sani: Auf der Außentreppe

Berlin, Tokio und zurück: Das Haus am Waldsee zeigt in einer Online-Ausstellung neun spannende Filme von Fischer & el Sani, die durch die ganze Welt führen.

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Gelobt sei das Internet in Zeiten der Pandemie. So bietet das aktuell geschlossene Haus am Waldsee bietet ein Videokunstprogramm online an. Auf der Website sind im wöchentlichen Wechsel Arbeiten des Künstlerduos Fischer & el Sani zu sehen. Neun Filme aus 25 Jahren hat Waldsee-Chefin Katja Blomberg ausgewählt, sieben davon stehen noch aus, jeden Mittwoch wechselt das Programm.

Nina Fischer, 1965 in Emden geboren, und Maroan el Sani, der 1966 in Duisburg zur Welt kam, trafen sich Anfang der 1990er in Berlin: eine Stadt, die sich in Turbogeschwindigkeit wandelte. Kein Wunder, dass ihre Gemeinschaftswerke von Anfang an um Orte und Identitäten kreisen, die sich transformieren.

Der Palast der Republik wurde abgerissen, das Stadtschloss wieder aufgebaut. Ausgehend vom Schloss und der deutschen Kolonialvergangenheit entwickelten Fischer & el Sani 2015 den Knetfigurenfilm „Der Dreisatz der Identität“, der bis 27. April abrufbar ist. In Zeiten einer neu entflammten Raubkunstdebatte – speziell um die Benin-Bronzen im Humboldt Forum – ist der Animationsfilm brisant.

Da kreuzen sich die Wege von Flüchtenden aus „Elitien“ und „Despotien“. Am Ende treffen sie sich in einem Modell des Stadtschlosses (aus Fischer/Sanis Installation „Concrete Castle“ von 2014) wieder – eine Ruine, in der sich die Marginalisierten an offenen Feuern wärmen.

Berlin Mitte – eine Dystopie. Andere Filme sind in Paris, Amsterdam, Rom, Tokio oder Kyoto entstanden. „Contaminated Home“ (2021, ab 28. April auf der Website) zeigt die Privatfotos einer Familie aus Fukushima, die nach der Atomkatastrophe vom März 2011 ihr Haus verlassen musste. In Form einer Diaserie wird gezeigt, wie diese Menschen regelmäßig von Kyoto in ihre Heimat zurückkehren, um die Veränderungen vor Ort zu dokumentieren und die Strahlung zu messen. Auf der Tonspur zitieren Fischer & el Sani aus Gesprächen mit den Betroffenen. Welch trauriges Famlienalbum.

Grausame und kafkaeske Filme

Ebenfalls in Japan wurde „Spelling Dystopia“ (2008) gedreht, eine Zwei-Kanal-Installation, die ab 5. Mai in einer Splitscreen-Version verfügbar ist. Das Künstlerpaar beschäftigte sich mit der Geschichte der Insel Hashima. Unter einem Felsen im Meer vor Nagasaki wurde im 19. Jahrhundert Kohle entdeckt und ab 1887 abgebaut. 1916 wurde auf der Insel das erste Stahlbetonhochhaus Japans errichtet. Während des Zweiten Weltkriegs war „Gunkanjima“ – „Kriegsschiffsinsel“, so der Spitzname für das künstliche Eiland – ein Arbeitslager für chinesische und koreanische Kriegsgefangene.

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1959 bewohnten mehr als 5000 Menschen die 160 mal 450 Meter kleine Insel – eine rekordverdächtige Bevölkerungsdichte. Als die Zeche 1974 geschlossen wurde, mussten die Bewohner:innen die Insel verlassen. Einer von ihnen erinnert sich an seine Jugend auf Hashima, heute eine Geisterinsel. Auf einer zweiten Ebene erzählen Schüler:innen den grausamen Zukunftsfilm „Battle Royale“ nach, der dort gedreht wurde. Manchmal wird Fiktion gebraucht, um Erinnerung wachzuhalten, zumindest: das Interesse der Jüngeren zu wecken.

Einen unheimlichen Ort zeigt auch „The Rise“ (2007, ab 12. April). Ihren kafkaesken Kurzfilm drehten Nina Fischer & Maroan el Sani in einem Bürogebäude von Raphael Vignoly, der mit dem Entwurf am Wettbewerb für das neue World Trade Center in New York teilnahm, seinen Turm dann aber in Amsterdam baute. Fast wie ein Extrembergsteiger bezwingt der Protagonist die umlaufende Außentreppe des Baus, passiert dabei verschiedene Wetterzonen – und erschauert vor seinem Doppelgänger, mit dem er plötzlich konfrontiert ist.

Eine Dreiecksgeschichte aus Marzahn

Ab 19. Mai ist „Toute la mémoire du monde“ (2006) zu sehen, eine filmische Elegie um die leeren Regale und den verlassenen Lesesaal der alten Bibliothèque Nationale de France in Paris. Die französische Regie-Legende Alain Resnais hatte die Bibliothek 1956 in einem gleichnamigen Kurzfilm (deutsch: Alles Wissen der Welt) als unschätzbaren Speicher charakterisiert. Bei Fischer & el Sani bleibt nur ein apokalyptisches Bild: Komparserie starrt Löcher in die Luft des Lesesaals. Der Schlüssel zum Wissen ist verloren.

[hausamwaldsee.de – Videoprogramm wechselt mittwochs und endet am 8. 6.]

Mit „Klub 2000“ (1998, ab 26. Mai), einer elfminütigen Dreiecksgeschichte aus Marzahn um die Möglichkeitsformen einer Stadt, kehrt die Online-Retrospektive nach Berlin zurück. Und „Be Supernatural“ von 1995 (2. bis 8. Juni) switcht ganz in die Frühgeschichte des Duos. Mit der 18-Minuten-Mockumentary endet die Filmreihe. Dort dichten sich Fischer & el Sani übersinnliche Fähigkeiten an, die unweigerlich zu ihrem Zusammentreffen in Berlin geführt haben sollen.

Der Film beginnt mit angeblichen Super-8-Dokumenten zweier telekinetisch begabter Kinder, die Löffel verbiegen und Schiffe versenken können. Am Schluss tanzt das erwachsene Künstlerpaar zu dem Discosong „Be supernatural“. Der Appell steht auch auf Nina Fischers T-Shirt, während Maroan el Sani ein Shirt mit dem Aufdruck „Concentrate your energy“ trägt – damals, als die Esoteriker noch friedliche Leute waren.

Jens Hinrichsen

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