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Immer früh schlafen gehen. Der 1871 geborene Marcel Proust im Alter von 16 Jahren, als er das Lycée Concordet besuchte.

© imago/Leemage

"Auf der Suche nach Marcel Proust": Der Onkel und die Dame in Rosa

Bernd-Jürgen Fischer erkundet in einem Album mit Bildern und Texten die Familien- und Freundeskreise des Jahrhundertschriftstellers Marcel Proust.

Als Marcel Proust 1919 in Paris den Prix Goncourt für den zweiten Teil seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ verliehen bekam, für „Im Schatten junger Mädchenblüte“, war die öffentliche Meinung darüber geteilt. Nur ein Jahr nach Kriegsende erschien es nicht opportun, einen Roman auszuzeichnen, den ein Kritiker als „Collage ruheloser Grübeleien“ bezeichnete.

Das Buch habe „kaum eine Beziehung zu den Tendenzen der neuen Generation“ und sei „für jene kränklichen Seelen (...), die sich der Realität nicht stellen können und sich in Träumereien verlieren.“

Mit sechs zu vier Jury-Stimmen hatte Proust die Wahl gewonnen, gegen den jüngeren Kollegen Roland Dorgèles. Dieser war mit einem pazifistischen, dem Trauma des Ersten Weltkriegs nachspürenden Soldatenroman nominiert worden, mit „Les Croix de bois“, der 1930 unter dem Titel „Die hölzernen Kreuze“ auch ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurde.

„Les Croix de bois“ passte besser zur Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg als Proust mit seiner „Recherche“, wie der Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kürzer und griffiger auch genannt wird. Nur ist es halt die Crux mit zeitgemäßen Stoffen, die in ihrer ästhetischen Aufbereitung manches zu wünschen übrig lassen: Sie überdauern ihre Zeit nicht.

2021 wird Marcel Prousts 150. Geburtstag gefeiert

Dorgèles Roman verkaufte sich bis in den Sommer 1920 dreimal mehr als Prousts „A l’ombre des jeunes filles“ – aber wer kennt heute noch Roland Dorgelès, zumal außerhalb Frankreichs? Und wer Marcel Proust, den Jahrhundertschriftsteller, der 1871 im damaligen Pariser Vorort Auteil geboren wurde?

Nächstes Jahr wird Marcel Prousts 150. Geburtstag gefeiert, und aus diesem Anlass hat der Reclam Verlag vorab schon einmal ein Album mit Bildern und Texten veröffentlicht, „Auf der Suche nach Marcel Proust“. (Reclam Verlag, Stuttgart 2020. 244 Seiten, mit 112 Abbildungen, 28 €.)

Herausgegeben und zusammengestellt wurde der Band von dem Berliner Proust-Übersetzer Bernd- Jürgen Fischer, der zwischen 2013 und 2016 die „Recherche“ für den Reclam Verlag neu übersetzt hat.

Seitdem erscheinen bei Reclam auch andere Bücher von oder über Proust, zuletzt die Gedichte oder der Briefwechsel mit dem Komponisten Reynaldo Hahn. Letzterer war mit Proust bis zu dessen Tod 1922 befreundet, erst sehr eng, so reisten sie zusammen 1900 nach Venedig, später distanzierter. Hahn war es, der Prousts Tod bekanntgab, und er hat in Fischers Band einen längeren Eintrag.

Fischer hat sein Album in drei größere Kapitel aufgeteilt: eines, das Stationen des Schriftstellers von der Schule bis zu seinem Tod Revue passieren lässt; eines, das die Mitglieder seiner Familie vorstellt sowie ein drittes für die Bekannten und Freunde.

Vorangestellt ist jedem Eintrag eine Fotografie, ein gemaltes Porträt oder Schriftstücke, zum Beispiel das Titelblatt der am 13. November 1913 veröffentlichten Erstausgabe von Prousts „Combray/In Swanns Welt“ oder eben die faksimilierte handschriftliche Mitteilung der Goncourt-Jury 1919 an Proust. Auf die Bilder folgt stets ein kurzer Kommentar oder eine biografische Erläuterung und darunter dann Zitate aus Prousts Romanen oder aus seinen Briefwechseln.

"Jean Santeuil" und "Gegen Saint-Beuve" erschienen erst in den fünfziger Jahren

Diese Kombination aus Bildern und Texten hat Charme. In ihrer Kompaktheit ergibt sie eine Art Kurzbiografie des Schriftstellers, der ja schon vor der „Recherche“ nicht nur mit dem Erzählband „Tage und Freuden“ debütiert hatte, sondern auch an dem autobiografischen Roman „Jean Santeuil“ und der Essaysammlung „Gegen Saint-Beuve“ schrieb.

Im Fall von „Jean Santeuil“ war es die von ihm gewählte Erzählperspektive in der dritten Person, die Proust zu weit weg von seinen inneren Zuständen führte und ihm als zu statisch erschien.

Und in dem des Essays gegen den berühmten Literaturkritiker Saint-Beuve gerieten ihm Passagen immer wieder unter der Hand zu wenig essayistisch-kritisch, zu erzählerisch und viele Motive der „Recherche“ vorwegnehmend. Beide Bücher wurden erst in den fünfziger Jahren veröffentlicht.

Aufschlussreicher als Prousts hinlänglich bekanntes Leben und Schaffen sind hier für den schnellen Blick vor allem die Kurzporträts der Familienmitglieder und der vielen Freundinnen und Freunde mit bevorzugt adeliger Herkunft. Zum Beispiel das von Louis Weil, einem Großonkel mütterlicherseits, dem Bruder seines Großvaters Nathé Weil.

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Louis Weil führte laut Fischer „als Witwer ein lustiges Leben, das jedoch seiner Familie missfiel“. Er diente dann als Vorbild für jenen ungleich berühmteren fiktiven Onkel Adolphe, der von dem jungen Erzähler der „Recherche“ immer mal wieder in Paris besucht wird. Bei ihm lernt er die „Dame in Rosa“ kennen, jene Dame, die sich als Swanns Odette entpuppt, mit der auch Onkel Adolphe ein Verhältnis hatte. (Und natürlich stellt Fischer auch die wirkliche „Dame in Rosa“ vor: Es ist die Prostituierte Lauré Hayman, die hier auf einem Gemälde des Malers Julius LeBlanc zu sehen ist.)

So tauchen wie an einer Perlenkette aufgezogen die Modelle der Figuren aus der „Recherche“ auf. Zum Beispiel Madeleine Lemaire, deren Salon auf den von Madame Verdurin verweist; oder der Graf Robert de Montesquiou-Fezensac, bei dem sich Proust Züge seines Baron de Charlus geliehen hat.

Oder der Graf Bertrand de Salignac-Fénelon, der in den frühen Tagen des Ersten Weltkriegs fiel und mit Proust seit 1902 befreundet war. Fénelon war es, der Proust einst in einem Pariser Nobelrestaurant seinen Mantel brachte. Das ja eher nebensächliche Ereignis verarbeitete Proust zu einer großartigen Szene im „Recherche“-Band „Guermantes“.

Hier wartet der Erzähler auf seinen Freund Saint-Loop, der ihm ebenfalls seinen Mantel holt, „um mich warm zu halten. (...) Zwischen den Tischen waren elektrische Leitungen in geringer Höhe gespannt; ohne sich von ihnen beirren zu lassen, sprang Saint-Loup geschickt über sie hinweg, wie ein Rennpferd, das ein Hindernis nimmt; (...) und als Saint-Loop, der hinter seinen Freunden durchmusste, auf die Kante der Rückenlehne kletterte und sich dort balancierend weiterbewegte, brach diskreter Applaus im Hintergrund des Saales aus.“

Es gibt über 10.000 Sekundärarbeiten zu Proust

So vermischen sich in Fischers schönem, instruktiven Proust-Album Leben und Literatur, aber immer so, dass die ästhetischen Ausarbeitungen sichtbar bleiben. Zum Beispiel auch im Fall seines früheren Idols Anatole France, den er in den wunderbar salbadernden Reden des Ingenieurs Legrandin persifliert.

Dass die Beschäftigung mit Proust und seinem Werk eine Lebensaufgabe ist, dokumentiert Fischer mit dem Eintrag „Nachleben“. Darin bemerkt er unter anderem, dass es nicht nur gut 10.000 erhaltene Schriftstücke des manischen Briefschreibers Proust gibt, sondern auch die Zahl der Sekundärarbeiten zu ihm und seinen Schriften mittlerweile die 10.000 überschritten haben dürfte, „Tendenz steigend“.

Aber auch von Marcel Proust selbst sind zuletzt unbekannte Novellen und Erzählungen aufgetaucht, ein mutmaßlich zu „Tage und Freuden“ gehörendes Text-Konvolut. Diese Geschichten sind 2019 in Frankreich veröffentlicht worden; im Sommer kommenden Jahres erscheinen sie unter dem Titel „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ auch in einer deutschen Übersetzung im Suhrkamp Verlag.

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