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Robert Sabatiers Arbeit „Brigitte Bardot ou roman hypergraphique au portrait“ von 1967.

© EAMC/Robert Sabatier VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Nick Ash

Aufstand der Buchstaben: Eine Berliner Ausstellung feiert die Provokationen der Pariser Lettristen

Eine ästhetische Bewegung zu entdecken. Die EAM-Collection in Berlin verfügt über eine bedeutende Sammlung der Pariser Künstlergruppe.

Von Hans von Seggern

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Frankreich, Ende der sechziger Jahre. Das charmante Bürgersöhnchen Pierre wird Zeuge eines nächtlichen Mordes: Eine wunderschöne junge Frau wird von bizarr vermummten Gestalten erschossen und auf ein Schloss gebracht, das, wie Pierre mit Entsetzen feststellt, seinem Vater gehört. Hier beobachtet Pierre seltsame Rituale, in deren Mittelpunkt die geheimnisvolle Schöne steht, gehüllt in ein bezauberndes oranges Nichts aus Gaze – und nun urplötzlich wieder quicklebendig ist: Die Unbekannte enthüllt sich als Untote, als eine Vampirin.

Denn: Pierres Vater hat sich mit zwei skrupellosen Wissenschaftlern zusammengetan, die aus reiner Geldgier der Schönen das Geheimnis ewiger Jugend entreißen wollen. Als Pierre gegen Ende der Geschichte der Geheimnisvollen durch einen magischen Vorhang in ihr Reich folgt, stellt er fest, dass dies keinesfalls eines des Schreckens ist, sondern dass hier Friede, Harmonie und Schönheit herrschen.

Soweit der Plot des Filmes Die nackten Vampire (1969). Wenn irgendetwas an diesem schaurigen Streifen mit seiner Inszenierung des Generationenkonflikts und seiner schüchternen Erotik gelungen war, so war dies sein gezielter Anschlag auf die Geschmacksnerven des Bürgertums. Der Regisseur des trashigen Gruselschockers, Jean Rollin: ein Stiefsohn des Pariser Surrealisten Georges Bataille, einem Theoretiker des Obszönen.

Hauptdarsteller Maurice Lemaître wiederum ist dem Publikum – gemeinsam mit seinem Kollegen Isidore Isou – bekannt als Haupt der aufmüpfigen Künstlergruppe der Lettristen. Zu deren Self-Marketing gehören in der Epoche von 1945 bis etwa 1970 immer wieder provokante Skandale gegen ein degeneriertes Bürgertum, von dem niemand mehr etwas zu erwarten hat.

Krieg produziert Sinnverweigerung

Was war geschehen? Kaum waren die Panzerschlachten eines verheerenden Weltkriegs beendet, kaum der himmelschreiende Lärm der Stukas verstummt, beeilten sich die Herrscher der Welt, neue Kriege anzuzetteln: Korea, Vietnam, Algerien. Stellvertreterkriege und postkoloniale Konflikte, die für niemanden Sinn machten, außer für die Rüstungsindustrie – und deren Sinnleere sich in der demonstrativen Sinnverweigerung der Lettristen spiegelt.

So widmete Maurice Lemaître im Jahr 1965 dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle eine kunstvoll gestaltete „Grabinschrift“, die diesen als Todesfürsten darstellt: liberté, fraternité, la mort, lässt sich ahnungsweise aus der mit Buchstaben überschriebenen Figur des Generals herauslesen. Ein mit Lettern übermaltes Gemälde von Roland Sabatier, das 1967 im Pariser Musée d’Art Moderne gezeigt wurde, zeigt Brigitte Bardot und Jean-Luc Godard und spielt auf den Film Le Mépris an, der sich kritisch mit der kommerziellen Filmindustrie auseinandersetzt.

Die Dadaisten sind Vorläufer

Ein anderes Gemälde wiederum zeigt den Papst als Exhibitionisten. Revolutionäre Pamphlete und künstlerische Manifeste, die bis heute der Diskursanalyse harren, gehörten in gleichem Maße zu den Ausdrucksformen der Lettristen. Die Pariser Lettristen standen gleichwohl nicht ohne Vorgänger da: Kurt Schwitters Ursonate, zuerst vor genau 100 Jahren im Jahr 1923 erschienen, kann als Lettrismus avant la lettre angesehen werden: ein Gedicht, das sich ausschließlich aus sinnfreien Sprachlauten zusammensetzte.

In seiner Frankfurter Poetikvorlesung illustriert Durs Grünbein den Unterschied des Sprachgebrauchs in der Lyrik von demjenigen im Alltag: „Die zentrale Erfahrung dieser Dichterlektüren war das durch Vereinzelung freigesetzte, in einen Traumzustand versetzte Wort, das seine Echos durch Zeiten und Räume von überall her empfing. Dieses Wort aber schien bereits tief in mir selbst angelegt zu sein, es wurde gewissermaßen aus dem innersten Speicher abgerufen und funktionierte nun als freies Radikal, das im Gehirn immer neue Verbindungen einging.“

Radikale Opposition

Radikaler noch trat im Paris der Nachkriegszeit die Gruppe um Isidore Isou und Maurice Lemaître auf, die weder figurativ noch abstrakt zu malen beabsichtigten – sondern das individuierte Zeichen, den aus jedem Bedeutungszusammenhang freigelassenen Buchstaben, ins Zentrum ihres Schaffens stellten. Damit variierten sie ein Thema, das grundlegend ist für die Avantgarden der Moderne: Die radikale Opposition gegen eine in ideologischen Propaganda-Schlachten vernutzte Sprache und Bilderwelt.

Mit der Übernahme der Archives d’Isidore Isou und einer 2019 den Lettristen gewidmeten Retrospektive im Pariser Centre Pompidou sind die Lettristen im Olymp der französischen Kunstgeschichte angekommen, während sie in Deutschland noch ganz neu entdeckt werden können.

Bei einem Besuch des Musée Rodin im Jahr 1962 hatte Maler und Schauspieler Maurice Lemaitre die junge Romanistik-Studentin Elke Ploss aus Essen kennengelernt. Aus der Liebe eines Sommers wurde eine lebenslange Freundschaft, auch mit ihrem späteren Mann Arno Morenz. Gemeinsam bauten sie die heute weltweit bedeutendste Sammlung der Bewegung der Lettristen auf: Mehr als 180 Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Collagen, Skulpturen und Druckgrafiken nebst Bergen an künstlerischen Manifesten und Pamphleten umfasst die Elke und Arno Morenz Collection (EAMC).

Heute führt die Tochter des Sammler-Paares Elke und Arno Morenz, Swana Pilhatsch-Mohrenz, die Sammlung unter dem Namen EAMC als öffentlich zugängliche Ausstellung in der Charlottenburger Sybelstraße und lädt regelmäßig zu kunsthistorischen Abenden. Es gibt viel zu entdecken: Wir müssen nur hingehen!

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