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Flüchtlingsunterkunft im Hangar des Flughafen Tempelhof. Im Flüchtlingscamp in Recklinghausen, in dem unser Autor lebt, sind in vier Räumen je 200 Menschen untergebracht.

© dpa

Ein geflüchteter Komponist berichtet: Aus dem Leben eines Lagerinsassen

Wie ist es, mit 800 Menschen auf engstem Raum zu wohnen und dabei Arnold Schönbergs Kantate „Überlebenden aus Warschau“ im Ohr zu haben? Ein Nachtstück.

Stellen Sie sich eine große Menschenansammlung auf engstem Raum vor: fast 800 Menschen unterschiedlicher Nationalität, Kultur, Bildung, ethnischer Herkunft und sozialer Zugehörigkeit, die in vier Zelten zu je etwa 200 Personen leben. Eine solche Menschenmasse ist eine extraordinäre Form des zeitgenössischen Zusammenlebens. In der Geschichte Europas begegnet sie einem nicht oft. Unter solchen Bedingungen endet der individuelle Raum eines jeden an den Rändern der eigenen Matratze. Je zwei davon sind in den Unterkünften übereinander angeordnet, Trennwände teilen den Raum in Zwölfereinheiten, in denen jedes Individuum unweigerlich Teil einer Menge wird, in der es fast kein eigenes Leben gibt. Trotz all dieser Schwierigkeiten und existenziellen Probleme wollen immer noch Flüchtlinge nach Deutschland kommen – was man nur als neues historisches Phänomen betrachten kann.

Im Lager denke ich an die Düsternis deutscher Vergangenheit

Dem russischen Philosophen Lew Gumiljow zufolge werden die Massen von etwas angetrieben, das er als „Passion“ bezeichnete. In seinen Augen sind die „Passionarier“ die ursprüngliche Triebkraft der Geschichte, die zerstörend auf alles Höhere und Empfindsamere wirkt. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset beschrieb in seinem Schlüsselwerk „Der Aufstand der Massen“ wiederum die besondere Situation der 1930er Jahre, in denen dank des technischen Fortschritts die Bevölkerungszahl stieg, die „Menschenmasse“ eine gewisse „Leichtigkeit des Seins“ annahm und infolgedessen ihren „sittlichen Anspruch“ an sich selbst einbüßte, ihr Verantwortungsgefühl vor der Gegenwart und der Zukunft, ihre Achtung vor der Arbeit. Ist dies vielleicht auch eine Beschreibung des Phänomens, dass sich heute so viele Menschen freiwillig in deutsche Lager begeben, trotz aller Düsternis der deutschen Vergangenheit?

1947 schuf Schönberg seinen "Überlebenden aus Warschau"

Auch wenn sich ein Vergleich dieser und jener Lager eigentlich verbietet: Während ich die Dritte Große Völkerwanderung live in einem Flüchtlingslager in Recklinghausen verfolge (wo Araber, Kurden, Afghanen, Inder, Chinesen, Tadschiken, Usbeken, Tschetschenen, Armenier, Aserbaidschaner, Weißrussen, Mongolen und Afrikaner leben), kommt mir, von Beruf Komponist, ein Gedanke des Philosophen und Musiktheoretikers Theodor Adorno in den Sinn. Der schrieb 1949 in seiner „Philosophie der neuen Musik“, dass eben diese „alle Dunkelheit und Schuld der Welt“ auf sich genommen habe. Adorno hatte zweifellos die Konzentrationslager im Sinn.
Wurden vielleicht bereits die Werke der deutschen Romantiker mit ähnlichen Hintergedanken geschrieben, etwa Brahms’ „Deutsches Requiem“ oder Wagners „Götterdämmerung“ als Schluss seiner „Ring“- Tetralogie? Ein anderer bedeutender Komponist, Arnold Schönberg – das Vorbild für Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ –, schuf in Gedanken an diese Dunkelheit 1947 die Kantate „Ein Überlebender aus Warschau“.

Einer meiner Landsleute sagt: Bleiben Sie mir mit der Politik vom Leib!

Die Bewohner meines Lagers sind Persönlichkeiten mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten, von denen vielen zunächst gar nicht bewusst war, dass sie in Deutschland um politisches Asyl ersuchen. Auf die Frage, ob er Schwierigkeiten mit den aserbaidschanischen Machthabern gehabt habe, antwortet einer meiner Landsleute beharrlich: Auf keinen Fall, bleiben Sie mir mit Politik vom Leib!
Der 63-jährige R., ein Marktplatzwächter aus Tschetschenien, hatte sich eines Tages kritisch über den russischen Präsidenten Wladimir Putin geäußert, wofür man ihn in die Verliese des tschetschenischen Republikspräsidenten Ramsan Kadyrow warf. Er wurde gefoltert, verlor Zähne und trug Verletzungen im Unterleib davon. Nachdem er sich vor diversen Sicherheitsdiensten lange in den Wäldern Tschetscheniens versteckte, gelang ihm die Flucht. R. schlug sich praktisch zu Fuß quer durch Russland und Polen bis nach Deutschland durch. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung hielt er sich bereits seit vielen Monaten in Flüchtlingslagern auf und wartete auf eine dringende Operation.
Der 38-jährige Aserbaidschaner Z., den eine schwere Diabeteserkrankung quälte, hatte in seiner Heimat mit Medikamenten gehandelt, ein Geschäftszweig, den im korrupten Aserbaidschan die Präsidentengattin und ihr Clan kontrollieren. Nach Drohungen seitens der Sicherheitsdienste hatte Z. beschlossen, mit seiner Familie das Land zu verlassen.

Fast alle verheirateten Frauen im gebärfähigen Alter sind schwanger.

Der 52-jährige B. aus der Mongolei hat gemeinsam mit seiner elfjährigen Tochter die ungeheuren Weiten Eurasiens durchquert. Die beiden sind ein rührendes Paar. Inzwischen hat man sie in ein anderes Lager verlegt, nachdem ein Araber mittleren Alters dem Mädchen sexuelle Avancen gemacht hatte – der Vater drohte ihn umzubringen. Der 33-jährige Tadschike S., der aus Moskau eingereist war, entschied sich nach einmonatigem Aufenthalt im Lager, seine Asylbewerbung zurückzuziehen und heimzukehren, weil er begriff, dass er am falschen Ort gelandet war. Im Lager lässt sich zudem ein weiteres seltsames Phänomen beobachten. Fast alle verheirateten Frauen im gebärfähigen Alter, die aus den Ländern der ehemaligen UdSSR kommen, sind schwanger. Als habe ein Dirigent den Auftakt zu einer massenhaften Empfängnis gegeben, an dem sich Angehörige aller Stämme beteiligen. Bereits am zweiten Tag meines Aufenthalts begleite ich eine Frau vor der Niederkunft im Krankenwagen, als Übersetzer. Inzwischen weiß ich: Hier wirkt keine mysteriöse Schicksalskraft, sondern offenbar eine postsowjetische Mafia, die Menschenhandel betreibt. So hatten einige meiner Landsleute von dem Gerücht gehört, dass die deutsche Regierung angeblich für jedes Kind 45 000 Euro zahlt.

Dieses gespenstische Stipendium hat viele Paare offenbar zur eifrigen Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten animiert. Man muss sich das vorstellen: Die Flucht bringt neues Leben hervor! Das Leben geht weiter, immer und trotz allem. Im Lager trotzt es dem nicht abreißenden Kindergeschrei, dem Gedränge in den Essensschlangen, dem Dreck der sanitären Einrichtungen, dem Lärm bis in die Tiefe der Nacht, den nie endenden Schlägereien. Der österreichische Psychiater Viktor Frankl, Autor des grandiosen Werks „... trotzdem Ja zum Leben sagen“, gelangte nach seinen Erlebnissen in deutschen Konzentrationslagern zur Überzeugung, dass die größten Überlebenschancen nicht Menschen mit kräftiger Gesundheit hatten, sondern mit kräftigem Geist, mit einer Sinnvorstellung, für die es sich lohnt zu leben.

Jeder ist hier gezwungen, mit anderen in Kontakt zu treten.

In unserem Lager erweist sich die weibliche Psyche als robuster als die männliche. Die beiden Selbstmordversuche, die sich in meiner bisherigen Lagerzeit ereignet haben, wurden von Männern begangen. Erst wollte sich ein ehemaliger Insasse eines russischen Gefängnisses erhängen, einer meiner Landsleute, 34 Jahre alt. Gerettet wurde er von zwei Armeniern, deren Land sich seit mehr als 25 Jahren in einem blutigen Konflikt mit Aserbaidschan befindet. Die Menschlichkeit siegt über die Politik: Die beiden schafften es, den Kopf des Selbstmörders aus der Schlinge zu ziehen. Später schlitzte sich ein Pakistaner die Adern auf, auch er konnte gerettet werden.

Elmir Mirzoev, 1970 in Baku geboren, ist Komponist und Kulturwissenschaftler aus Aserbaidschan. Seine Werke werden von internationalen Ensembles sowie auf Festivals aufgeführt. Im September 2015 musste er fliehen; im Juni kam er in ein Flüchtlingscamp in Recklinghausen.
Elmir Mirzoev, 1970 in Baku geboren, ist Komponist und Kulturwissenschaftler aus Aserbaidschan. Seine Werke werden von internationalen Ensembles sowie auf Festivals aufgeführt. Im September 2015 musste er fliehen; im Juni kam er in ein Flüchtlingscamp in Recklinghausen.

© Ismail Nur

In derart beengtem Raum ist jeder dazu gezwungen, mit den anderen in Kontakt zu treten. Man lebt ja in einer Kommune, in der alles allen gemeinsam ist, angefangen bei den Betten bis hin zum gemeinsamen Essen und den Toiletten. Niemand kann sich absondern, alles ist immer im Blick, im „Hier und Jetzt“, wie es manche Anhänger des Sufismus nennen.
Als ich am 22. Juni 2016 erstmals durch die Tore des Lagers in der Cranger Straße 11 in Recklinghausen schritt, musste ich an meine Komposition „Intra Cancellos“ (Hinter Gittern) denken, die ich 22 Jahre zuvor in einem Kompositionsworkshop der Universität Göteborg geschrieben hatte: „Aus der Tiefe der Zeit erblickte ich die Zukunft...“.
Prophetische Zeile.
Aus dem Russischen von Jens Mühling.

Elmir Mirzoev ist Komponist und kommt aus Aserbaidschan, wo er politisch verfolgt wurde. Sein Text erscheint im Rahmen der Tagesspiegel-Ausgabe vom 15. Oktober 2016, die von geflüchteten Journalisten gestaltet worden ist.

Elmir Mirzoev

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