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© dpa-Zentralbild

Ernst Ludwig Kirchner: Alle Jahre wieder

Ausstellungen in Salzburg, Frankfurt, New York: Zur steten Aktualität von Ernst Ludwig Kirchner

In Frankfurt am Main fand „Brücke“-Mitbegründer Ernst Ludwig Kirchner zwei seiner wichtigsten Unterstützer: den Kunsthändler Ludwig Schames, der seit 1916 seine Arbeiten ausstellte und den Künstler in Sammlerkreisen bekannt machte, und den Sammler Carl Hagemann, der seit 1920 in der Mainmetropole lebte. „Zu Beginn der zwanziger Jahre leuchtete Kirchners Stern in keiner anderen Stadt so hell wie in Frankfurt am Main“, hieß es 2007 im Chemnitzer Katalog zu Kirchners Deutschlandreise 1925/26. In Frankfurt haben sich, der Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ der Nazis zum Trotz, qualitätvolle Bestände erhalten, und so liegt es nahe, dass das Städel, das Kunstmuseum der Stadt, im Sommer eine umfangreiche Kirchner-Retrospektive eröffnen wird.

Es ist dies die erste Retrospektive in Deutschland seit jener, die vor dreißig Jahren in der Berliner Nationalgalerie ihren Ausgang nahm. Damals wurde der 100. Geburtstag Kirchners als Anlass genommen. Mittlerweile bedarf es keines solchen Anstoßes mehr, um sich mit Kirchner zu beschäftigen. Die Reihe der Ausstellungen setzt sich ununterbrochen fort. Derzeit ist im Salzburger Museum der Moderne eine Retrospektive zu sehen, deren Kurator, Lucius Grisebach, vor drei Jahrzehnten der Leiter der Berliner Ausstellung war.

Bei einer Vorabpräsentation des Frankfurter Ausstellungsvorhabens in Berlin wurde vollmundig erklärt, das Städel werde eine neue Sicht insbesondere auf das Spätwerk eröffnen. Ach je, da war zu viel Werbung im Spiel oder zu wenig Sachkenntnis. Denn auch das Spätwerk, das sich so sperrig gegen den expressionistischen Kirchner abhebt, ist gut erforscht. Erst 2008 befasste sich eine Ausstellung in Quedlinburg und Davos mit dem „neuen Stil“, unter dem Kirchner seine Abkehr vom flirrenden Expressionismus um 1913 verstanden wissen wollte.

In jüngster Zeit hat es eine Fülle hochkarätiger Kirchner-Ausstellungen gegeben, befeuert durch den spektakulären Verkauf der „Berliner Straßenszene“ von 1913 nach deren Rückgabe aus dem hiesigen Brücke-Museum. Die New Yorker „Neue Galerie“ – mit deutschem Namen – als Privatmuseum des neuen Straßenszene-Eigners Ronald S. Lauder zeigte sogleich eine ambitionierte Übersicht über die „Brücke“ mit dem Untertitel „Die Geburt des Expressionismus in Dresden und Berlin 1905–1913“. Gleichfalls 2008 nutzte das New Yorker Museum of Modern Art die Gelegenheit des Straßenszenen-Besitzwechsels, um mit viel Erfolg alle sieben herausragenden Berliner Straßenbilder Kirchners aus dem Jahr 1913 erstmals zusammen zu zeigen.

Man sollte „vermuten, dass zum Leben und Werk des Künstlers nur noch wenig zu entdecken und zu erforschen ist“, schreibt der Salzburger Museumsdirektor Toni Stooss im Vorwort des als Monografie aufgebauten Kataloges. Die Fragestellungen, die Stooss dann noch als offen angibt, sind wahrlich speziell, und es genügt ein Blick in irgendeine Auswahlbibliografie, um eine Ahnung vom Ertrag des immer spezialisierteren Forscherdranges zu geben. Man ist geneigt, an die Beobachtung des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn über den normalen Verlauf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns zu denken. Ein Paradigma, so Kuhn, erweise sich darin, „lösbare Fragestellungen (puzzles) zu identifizieren“. Genau das ist bei Kirchner der Fall. Der Rahmen ist abgesteckt, es bleiben Spezialprobleme. Über die Qualität seines Oeuvres, mag es Brüche kennen und Wendungen wie jedes Lebenswerk, gibt es keinerlei ernsthaften Zweifel. Aber es ist das Recht einer jeden neuen Generation, „ihren“ Kirchner so zu entdecken, als müsse man ihn geradewegs dem Orkus der Vergessenheit entreißen.

Lucius Grisebach: Ernst Ludwig Kirchner. DuMont Verlag, Köln 2009, 39,95 €. Neue Galerie: Brücke. The Birth of Expressionism in Dresden and Berlin, 1905–1913. Hatje Cantz, Stuttgart 2008, 39,80 €. Björn Egging, Karin Schick: Der Neue Stil. Ernst Ludwig Kirchners Spätwerk. Kerber Verlag, Bielefeld 2008, 38 €.

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