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Bewegte Zeit: Und durch die Erde ein Riss

Beschleunigte Zeit, verwehte Erinnerung: eine Ausstellung über den Wandel Osteuropas nach 1989 in der Akademie der Künste.

Bleiern steht die Luft, Mauern versperren den Blick, Gleise führen ins Nirgendwo. Der weißrussische Fotograf Igor Savchenko hat seine Umgebung mit der Lochbild-Kamera aufgenommen – ein Verfahren, das nur im totalen Stillstand möglich ist. Auf diese Weise verwandelt Savchenko sein Wohnviertel in eine gespenstisch verschattete Zone. Der Künstler verweigert sich als Autor, seine Fotos macht der „Apparat“. Für eine zweite Serie hat er aus Familienalben die Gesichter weggekratzt. In der Stalinzeit waren die Bilder von politisch Verfolgten ausgelöscht worden.

Die Ausstellung „Bewegte Welt – Erzählte Zeit“ in der Akademie der Künste in Tiergarten tastet sich in jene Regionen des Gedächtnisses vor, in denen schmerzhafte Erinnerungen von der Unschärfe des Vergessens gemildert werden. Wer besitzt die Hoheit über unsere Bilder, unsere Geschichte und Identität, fragen die beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Wer formt unsere Vorstellungen von der Zukunft?

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer präsentiert die auf Initiative des Goethe-Instituts entstandene Ausstellung vierzehn Foto- und Videoarbeiten aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, die den Epochenbruch reflektieren. So erweitert „Bewegte Welt“ gewissermaßen die Ausstellung im Akademiegebäude am Pariser Platz, die unter dem Titel „Übergangsgesellschaft“ Bilder und Filme aus der untergehenden DDR der achtziger Jahre versammelt.

Die Kuratorin Jule Reuter hat gemeinsam mit Kollegen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zeitgenössische Kunstwerke ausgesucht, die den Umbruch von 1989 als umwälzenden, bis heute nicht abgeschlossenen Prozess reflektieren. Die Welt, die hier gezeigt wird, hat sich in den letzten zwanzig Jahren verwandelt, und sie wird noch immer von diesen Metamorphosen „bewegt“. Was die Ausstellung aber vor allem zeigt, ist die allmähliche Rückeroberung der Bilder.

Mit ihrer Serie „Opfer“ aus dem Jahr 2003 macht Irina Abzhandadze aus Georgien den Mord an ihrer besten Freundin publik. Sie fotografiert deren Porträt im Wohnzimmer. Dann begibt sie sich auf die Suche nach weiteren Opfern, deren Tod unaufgeklärt blieb. Die Veröffentlichung des Bildes ist eine trotzige Kampfansage an die Gleichgültigkeit.

Mitunter manifestiert sich der Systemwandel auch brachial, wie in der Serie von Shailo Djekshenbaev aus Kirgisistan. „Perestrojka – Umbau“ hat der Künstler ironisch seine Fotos vom aufgerissenen Asphalt einer Straße in der Hauptstadt Bischkek genannt. Wie Eisschollen driften die Platten gegeneinander, verloren versuchen Passanten, das Trümmerfeld zu überqueren. Die Perestroika als Kontinentalverschiebung.

Dann wieder schleicht sich die Veränderung subtil in die Identität ein. Die Brüder Erbossyn Meldibekov und Nurbossyn Oris aus Kasachstan fanden alte Familienfotos, die in der Vergangenheit traditionell vor einem Lenindenkmal aufgenommen wurden. Nachdem Lenin vom Sockel gestoßen ist, posieren die Familien nun vor neuen, nationalen Helden. Fast scheint es gleichgültig, welches Monument den Hintergrund bildet. Doch schaut man genau hin, hat sich die Körpersprache der Menschen geändert. Unter dem ausgestreckten Arm Lenins waren Braut und Bräutigam erstarrt. Jahre später gibt sich die ganze Familie locker zu Füßen des tänzelnden Pferdes.

Eine ähnliche Langzeitstudie bildete den Ausgangspunkt der Ausstellung. 1983 fotografierte Christian Borchert ostdeutsche Familien bei sich zu Hause. Zehn Jahre später besuchte er die Familien wieder. Ob selbstbewusst oder traurig, energisch oder ironisch – der Gesichtsausdruck ist bei allen gleich geblieben. Nicht einmal die Wohnungen haben sich auffällig verändert. Kinderzeichnungen und Puppen schmücken den Hintergrund, obwohl die Kinder fast erwachsen sind. Die Bilder zeigen die Ungleichzeitigkeit zwischen privatem Beharrungsvermögen und politischem Beben.

Mit dem Mauerfall sei für sie eine gefühlte Beschleunigung des Lebens verbunden, schreibt Kuratorin Reuter. In den Bildern und Filmen der Ausstellung wird die Bewegung der Welt verlangsamt. Die Geschichte hat überall ihre Spuren hinterlassen: in den Landschaften, auf den Straßen und in den Gesichtern.

„Bewegte Welt – Erzählte Zeit. Zeitgenössische Fotografie und Videokunst aus Russland, der Ukraine, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Deutschland“, Akademie der Künste, Hanseatenweg, bis 13.9., Di-So 11-20 Uhr.

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