Kultur: Berliner beitrag: Mensch und Masse
Ende dieser Woche findet in Berlin ein "Geschichtsforum" statt, das den vielversprechenden Titel "Getrennte Vergangenheit - gemeinsame Geschichte?" trägt.
Ende dieser Woche findet in Berlin ein "Geschichtsforum" statt, das den vielversprechenden Titel "Getrennte Vergangenheit - gemeinsame Geschichte?" trägt.Die Frage ist überfällig.Fast zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung wird es Zeit, nicht nur die alte Bundesrepublik hochleben zu lassen und die DDR zu entlarven, sondern das ganze Deutschland ins Auge zu fassen.Gibt es zwischen 1949 und 1990 eine Geschichte Deutschlands oder nur die Einzelgeschichte jedes der deutschen Staaten? Die Antworten - es wird mehrere geben - werden wichtig sein für das, was man "innere Einheit" nennt.Ohne Verständigung über ihre unterschiedliche Vergangenheit können die Deutschen schwer zueinander kommen.
Das Vorhaben ist gut, und manche Namen derer, die sich daran beteiligen, lassen Gutes erwarten.Die Frage ist nur, ob es zuviel des Guten sein wird.Das Programmheft umfaßt 77 Seiten, es kündigt, wenn ich richtig gezählt habe, 81 Veranstaltungen an, für die es aber nur zwei Tage Zeit gibt.Man fragt sich: Können einundachtzig Veranstaltungen so wichtig sein, daß sie unbedingt stattfinden müssen? Aber die Spreu vom Weizen zu trennen, war vermutlich gar nicht möglich, weil es sich hier, wie meist, um ein Proporzunternehmen handelt.108 wissenschaftliche Einrichtungen, parteinahe Stiftungen, Bildungsorganisationen, Verbände, Museen wirken mit.
Da muß die Qualität in der Quantität ertrinken.Ein Beteiligter erzählt, zeitgleich mit seiner Veranstaltung fänden achtzehn andere statt.Viel Mühe umsonst, viele Interessenten verärgert oder abgeschreckt - verärgert, weil sich die Termine dessen, was sie hören wollen, überschneiden, abgeschreckt, weil man gar nicht erst hingeht, wenn man auf 19 Hochzeiten zugleich tanzen soll.
Das Geschichtsforum ist kein Einzelfall.Das Programmbuch für den Kirchentag, der Mitte Juni in Stuttgart stattfinden wird, hat 567 Seiten.Am 28.August kommt Goethes 250.Geburtstag, die Süddeutsche Zeitung zählt, wie Kinder vor Weihnachten, die Tage bis dahin.Die Menge der Bücher von, mit und über Goethe ist nicht zu ermitteln, leichter wäre es, die Verlage zu finden, die nichts über Goethe machen.Da über unseren größten Dichter auch früher schon einiges geschrieben worden ist, geht es nun vielfach nach dem Motto "Goethe wie ihn keiner kennt".Goethe als Menschenhändler, Goethe als Friedensfreund, Goethe auf dem Kriegspfad oder auch "Mit Goethe kochen".
Muß man noch an die politischen Jahrestage erinnern? Fünfzig Jahre Bundesrepublik, zehn Jahre Mauerfall - wer kann das alles lesen, was jetzt schon erschienen ist und bis zum November noch kommen wird? Oder vielmehr: Wer will das noch lesen? Wer will im nächsten Jahr noch von Bundesrepublik und DDR, von Teilung und Einheit und selbst von Goethe noch etwas hören? Es ist immer das gleiche: Die Masse erdrückt die Güte, die Betriebmacher ruinieren, was sie erreichen wollen.
Durch Übertreibung kann man alles zugrunde richten, die meisten wissen das und schwimmen dennoch mit.Weil klein vielleicht fein ist, aber nur groß etwas hermacht.Weil es gerade politischen Rückenwind und deshalb Geld gibt.Weil die anderen mitmachen und man nicht draußen bleiben darf.Weil man überhaupt dabeisein will, auch wenn man zum Thema nichts zu sagen hat.Die Böll-Stiftung läßt beim Geschichtsforum Antje Radcke auftreten, um zu erläutern, wie sich die Grünen von einer Oppositions - zu einer Regierungspartei entwickelten.Ein Beitrag, der uns der inneren Einheit einen Riesenschritt näherbringen wird.
Der Autor lebt als Publizist in Berlin
PETER BENDER