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Berliner Häuser (19): Kinder, Küche, Nahkampf

Die Manteuffelstraße 40/41 wurde vor 30 Jahren instand besetzt und so vor dem Abriss bewahrt. Noch immer wohnt hier eine große Kommune, die gemeinsam kocht und im monatlichen Plenum diskutiert

Was Glück für sie bedeute, hat Käthe Kruse neulich einige ihrer Mitbewohner gefragt. Die Antworten waren für ein Projekt der Künstlerin gedacht und fielen erwartungsgemäß höchst unterschiedlich aus. Natürlich spekuliert eine Sechsjährige auf andere Dinge als jener 65-jährige Nachbar, der einfach froh ist über jedes Jahr ohne größere Altersbeschwerden. Die beiden Minis im Toberaum der Manteuffelstraße 40/41 wurden zwar nicht gefragt, geben an diesem Abend aber eine anschauliche Vorstellung: Glück, das ist in Äpfel beißen und die Schale dann durchs Zimmer spucken. Das tun Ferdinand und Oskar mit Hingabe, bis Käthe Kruse die Reste der Obstschlacht entdeckt. Sofort Eltern holen, saubermachen, so geht das nicht. Die zwei Zwerge in Strumpfhosen schauen die Frau mit dem dunklen Pagenkopf unglücklich an, dann sausen sie los. „Ich bin hier die Strenge“, sagt Kruse entschuldigend, aber ohne Bedauern: Seit 28 Jahren ist sie für die Finanzen im ehemals besetzten Haus zuständig. Das härtet ab.

In der Küche stehen 17 Packungen Salz

Früher hat die Künstlerin selbst vom Tobezimmer profitiert. Wenn sie zu Hause arbeiten musste und andere in der Gemeinschaftsküche zugange waren, durften die Töchter im angrenzenden Zimmer spielen. Irgendeiner passte immer auf. Das ist schon länger nicht mehr nötig. Die 16-jährige Klara steht gerade am imposanten Gasherd. In riesigen Töpfen brodelt Reis, die Pfanne ist groß wie ein Wagenrad und hinter der angefangenen Packung Salz warten 16 weitere Kartons. Alles hier schreit: Überformat. Aber schließlich soll man Essen für 25 Erwachsene und Kinder kochen. Das ist der Durchschnitt beim Abendbrot an den beiden WG-Tischen. Nicht alle kommen täglich vorbei, manche haben inzwischen ihre eigene Küche im Labyrinth der collagierten Räume, die früher einmal Miniquartiere für Arbeiter und Offiziere waren. „Komm, ich zeig’ dir unsere Zimmer“, sagt Käthe Kruse, „es gibt hier keine Wohnungen. Nur Räume, die nach Bedarf und Verfügbarkeit immer neu arrangiert werden.“ Das alte Haus verfügt über zahllose Türen; Durchbrüche sind bei den dünnen, nicht tragenden Wänden schnell gemacht. Und wieder geschlossen, wenn die Fünfraumkonstellation nicht mehr nötig ist, weil etwa die Kinder ausziehen. Die Manteuffelstraße wirkt wie ein lebender Organismus, und der Eindruck verstärkt sich noch, als Käthe Kruse aus einem Fenster auf die Fabriketagen im Hinterhof zeigt: Dort hat in den achtziger Jahren alles begonnen.

Im dritten Stock wurden damals die großen Sprossenfenster notdürftig geflickt, der Raum dahinter lag voller Matratzen. Das war kurz nach dem 7. Februar 1981 – dem offiziellen Datum der Hausbesetzung einer ganzen Mietskaserne. Alte Fotos in dem längst vergriffenen Buch „Häuserkämpfe“ machen jene Zeit fast so lebendig wie Käthe Kruses persönliche Erinnerungen. Von der Fabriketage aus sind sie jeden Tag in die ruinösen Vorderhäuser und haben saniert. Nicht nur die Nummer 40/41, sondern auch rechts und links davon. Nötig war es überall, denn die Gesellschaft für Stadterneuerung (SAMOG) hatte die Manteuffelstraße im Wortsinn zum Abschuss freigegeben: Nach der Entmietung 1979 kamen US-Soldaten und übten Nahkampf. Mit scharfer Munition. Bis sich die Szene formierte, weil die billigen Kreuzberger Quartiere abgerissen werden sollten. Stattdessen beschloss man den zweiten Wiederaufbau.

Trümmerfrauen der neuen Generation

Im zentralen Raum, der bis heute die Küche geblieben ist, wurde Erbsensuppe für die Nachtwache gekocht. Die anderen sanierten tagsüber. „Jeder hat sich ein Zimmer gesucht und von dort aus begonnen“, erzählt Kruse, nun im Kostüm . Damals trugen sie und die anderen Trümmerfrauen der neuen Generation lieber Pumps und Overalls, die von breiten, neonfarbenen Gürteln auf Figur gebracht wurden. „Das waren schließlich die Achtziger, und wir waren ziemlich schick.“ So standen sie in den scheibenlosen, zerschossenen Zimmern, flickten Dächer, bauten Toiletten ein und verlegten Dielen. Zudem stand die Künstlerin nachts in der Milchbar im Erdgeschoss hinter dem Tresen oder gab als Teil der Band Die Tödliche Doris Hauskonzerte. Als Einnahmequelle für die Manteuffelstraße, der eigentlich ein Betonburgneubau wie am Kottbusser Tor blühte.

Wenn Käthe Kruse davon erzählt, ist man ihr und den anderen Hausbesetzern noch heute dankbar. Auch wenn der Widerstand keinesfalls uneigennützig war und bald in Einzelinteressen zerfiel: Die einen wollten besetzen, die anderen etwas mit Perspektive machen. An eine Genossenschaft, wie sie heute Eigentümerin der Manteuffelstraße 40/41 ist, dachte damals niemand. Wohl aber an feste Mietverträge, allein schon wegen des hohen Arbeitsaufwandes, für den viele ihr Studium aufgaben. Es gab Spannungen im Plenum, das noch heute einmal im Monat tagt. „Die Hardliner sind damals ausgezogen“, sagt Kruse. Sorgen musste man sich aber nicht machen, denn die nächsten Bewerber standen schon vor der Tür.

Ohne WG-Erfahrung klappt das Zusammenleben nicht

So ist es geblieben: Wo immer ein Zimmer frei wird, gibt es Anwärter. Sie müssen vor dem Plenum begründen, weshalb sie Teil der Gemeinschaft mit aktuell 35 Erwachsenen und 20 Kindern sein wollen – und sich prüfen lassen. Das Zusammenleben ist kompliziert genug. Da kann man niemanden gebrauchen, der bloß Gesellschaft will. Oder sich im In-Bezirk Kreuzberg auf 6,50 Euro Miete pro Quadratmeter freut. Einmal hat jemand zur Probe gewohnt, der sich nie fürs Kochen eintrug und immer nur mitaß. Als er nach einem halben Jahr ausziehen musste, war er völlig konsterniert, weil niemand ihn vorgewarnt hatte. Aber vielleicht hat genau diese rigorose Haltung für das Überleben jener WG gesorgt, die sich an diesem Abend in der Küche idealtypisch entfaltet: Karla und ihre Schulfreundin Antonia tischen das asiatische Reisgericht auf. Es gibt Schüsseln mit Bio-Rind und andere nur mit Gemüse für Vegetarier. Neben Käthe sitzt heute Uta, die 2004 aus Hamburg kam und erst in die Kastanienallee zog. Dann lernte sie Christiane kennen, die ihr anfangs für drei Monate das eigene „Zimmer mit Anschluss“ in der Manteuffelstraße überließ, um selbst nach Indien zu reisen. Gegenüber sitzen Nanni und Annegret, beide Langzeitmitbewohnerinnen. Herumgereicht wird Baby Rita, Neuzugang vom 21. Juni, die sprachlos und mit roten Wangen aufmerksam verfolgt, was in der großen Familie so geschieht. „Das muss schon passen“, sagt Uta, die ihr Probewohnen schließlich erfolgreich absolvierte. Und: „Ohne WG-Erfahrung hätte das nie geklappt.“

Erfahrene sind auch Käthe Kruse und ihr Mann Yves Rosset. Fast zwei Jahrzehnte haben sie als Familie gewohnt und wissen: Wenn die Töchter ausziehen, werden sie die Zahl der Zimmer überdenken, weil andere sie dann vielleicht nötiger haben. Ganz sicher aber geben sie ihre eigene Küche nicht auf, denn sie verspricht Entscheidungsfreiheit: allein zu essen oder am großen Tisch. Man registriert das, genau wie den Manufactum-Fußabstreifer vor der Tür. Die einstigen Besetzer sind ein bisschen bürgerlicher und anspruchsvoller geworden, was ihren Privatraum anbelangt. Doch die Manteuffelstraße hält das aus und kann tolerieren, wenn nicht jeder immerzu Lust auf WG hat. Glück ist schließlich, was man im Augenblick darunter versteht.

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