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Der Ton macht die Musik. Hoch über dem Saal der Philharmonie befindet sich das Aufnahmestudio des Orchesters.

©  Peter Adamik

Berliner Philharmoniker: Wo bitte geht’s zur Unsterblichkeit?

Geld bringt es nicht: Warum die Berliner Philharmoniker trotzdem ein eigenes CD-Label betreiben – und einen privaten Fernsehkanal.

Nein, finanziellen Profit machen die Berliner Philharmoniker mit ihren Medienaktivitäten nicht. Die Zeiten sind lange vorbei, als die Tantiemen den Musikern ein zweites Gehalt einbrachten. Unter Herbert von Karajan führte das Ensemble deshalb eine Doppelexistenz: Als staatlich finanziertes „Berliner Philharmonisches Orchester“ gab man Konzerte, in der Freizeit nahmen die „Berliner Philharmoniker“ eine Platte nach der anderen auf, zum Wohle ihrer privaten Geldbeutel. Ab 1981 wurde das ganze Repertoire dann noch einmal für das neue CD-Format eingespielt, hinzu kamen die von Karajan akribisch inszenierten Videoaufzeichnungen. Die mittlere Generation der Philharmoniker verweist noch heute neidisch auf die Eigenheime, die sich ihre inzwischen pensionierten Kollegen dank des Karajan-Goldes in Südwestberliner Spitzenlagen leisten konnten.

Für die jungen Orchestermitglieder liegt diese Epoche in grauer Vorzeit. Sie holen sich ihre Musik aus der Cloud, direkt aufs Handy oder Tablet. Digital Natives brauchen längst keine CDs mehr, keine haptischen Tonträger. Sie streamen, was sie gerade hören wollen, Pop oder Klassik, Musik jedenfalls, die bei einem Provider zentral gespeichert ist. „In zehn Jahren gibt es in den Wohnzimmern keine CD-Regale mehr“, behauptet Olaf Maninger, der Medienvorstand des Orchesters. „Dann werden nur noch unsere Editionen übrig bleiben – weil die Leute sie genauso gerne ansehen wie anhören.“ Maninger meint damit die Produkte des orchestereigenen Labels. Seit 2014 bringen die Musiker in Eigenregie Aufnahmen heraus, die den Anspruch erheben, so hochwertig zu sein wie bibliophile Ausgaben bei Büchern. Nicht nur der feste Einband, oft aus Leinen, erinnert an ein Buch, sondern auch das Format. Die Maße entsprechen ungefähr denen eines Lyrikbandes, nur eben gekippt, im länglichen Querformat.

Das eigene Label existiert seit zwei Jahren

Mit Simon Rattles Gesamtaufnahme der Schumann-Sinfonien startete das Label „Berliner Philharmoniker Recordings“ vor knapp zwei Jahren. Es folgten ein Schubert-Zyklus mit Nikolaus Harnoncourt am Pult sowie DVDs der „Zauberflöte“ aus Baden-Baden und von Peter Sellars szenischen Einrichtungen der Bach-Passionen aus der Philharmonie. Zum 150. Sibelius-Geburtstag erschienen, wieder von Rattle dirigiert, sämtliche Sinfonien des Finnen. Und aus Anlass des zweiten Todestags von Claudio Abbado kommt dieses Wochenende „The Last Concert“ heraus, ein Mitschnitt der letzten Begegnung der Philharmoniker mit ihrem langjährigen Chefdirigenten.

Weil das Orchesterlabel anders kalkulieren kann als ein Musikkonzern, erhält der Käufer Abbados Abschied gleich dreifach: Als normale CD, als Blue-Ray, also Videoversion, die man sich mit dem nötigen Gerät auch in „Pure Audio“ anhören kann, sowie als Download-Code. Das zweisprachige Beiheft bietet neben einem Essay und einer Werkeinführung auch noch einen ganzen Bilderschatz an. Jede Menge besonderer Fotos sind zusammengetragen, die auch den privaten Abbado zeigen, beim Fußball- und Tischtennisspiel mit den Musikern oder in seinem Stammlokal, der Schöneberger Trattoria „A Muntagnola“.

Die beiden Seelenseiten der Romantik beleuchtete Claudio Abbado im Mai 2013 in der Philharmonie. Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ zeigt das heitere Gesicht der Epoche: Im zarten, duftigen Orchestersatz lässt der Komponist Feen und Elfen tanzen, beschworen wird neben der Märchensphäre die Welt der idealisierten Antike. Hector Berlioz dagegen reißt sich in seiner autobiografisch geprägten „Symphonie fantastique“ die Brust weit auf, lässt das Publikum dunkle Abgründe schauen. Es geht um einen zwischen Liebe und Schaffensdrang zerrissenen Künstler, um Opiumrausch und Fieberfantasien, mit Schauplätzen, die Zeit und Raum überwinden, mal ins moderne Paris mit seinen glänzenden Ballsälen entführen, dann wieder ins finstere Mittelalter, zu öffentlichen Hinrichtungen und Hexensabbat.

Mit der ihm eigenen Feinnervigkeit arbeitet Abbado die gegensätzlichen Charaktere heraus, wobei das Orchester genau jene Form des mitdenkenden Musizierens praktiziert, die dem Dirigenten so wichtig war. Und wenn sich der Hörer hier mitten ins Live-Konzerterlebnis zurückversetzt fühlt, dann liegt das auch an der akustischen Qualität der Aufnahme. Die wiederum wird möglich dank der technischen Ausstattung der „Digital Concert Hall“, gerne zu DCH abgekürzt.

Als die Berliner Philharmoniker im Jahr 2008 beschlossen, sich ihren eigenen Fernsehkanal einzurichten, hielten die meisten Beobachter das für eine spinnerte Idee – bis auf den Hauptsponsor des Orchesters. Die Deutsche Bank erklärte sich bereit, den Pilotversuch so lange zu finanzieren, bis er sich wirtschaftlich trägt.

Dass dies trotz der globalen Bekanntheit des Luxusprodukts „Berliner Philharmoniker“ über sechs Jahre dauern würde, war den Geldgebern bei ihrer Zusage vermutlich nicht klar. Und das, obwohl die Innovation es Fans in aller Welt ermöglicht, live bei den Auftritten des Orchesters dabei zu sein: 39 Konzerte werden in dieser Saison via Internet übertragen, gefilmt aus bis zu zehn Kameraperspektiven.

Die Anlage im Wohnzimmer muss mithalten können

Was von der Digital Concert Hall ins Netz eingespeist wird, ist technisch state of the art – problematisch wird es nur, wenn das Equipment des Endverbrauchers nicht mithalten kann. Doch wer über Geräte verfügt, die der Datenmenge gewachsen sind, kann sich am Computer oder – dank einer App – auch an vielen TV-Modellen der Illusion hingeben, in der Philharmonie leibhaftig dabei zu sein. Ein Wahnsinnsaufwand, der sich auf absehbare Zeit allerdings nicht zur cash cow entwickeln wird, ebenso wenig wie die Liebhaber-Ausgaben der CD-Edition.

Warum machen die das also, wenn es doch kein Geld einbringt? Weil die Philharmoniker selbstbewusst genug sind, um in ihre eigene Unsterblichkeit zu investieren. Die Zukunft der Musikindustrie jenseits der Live-Konzerte ist nach wie vor ungewiss, die Kontrolle über seine digitale Zukunft will das Orchester aber nicht aus der Hand geben. Arbeit an der eigenen Marke: „Mit der DCH und ,Berliner Philharmoniker Recordings‘ legen wir jetzt ein Archiv an, das die Orchestermitglieder der nächsten Generationen nutzen können“, sagt Olaf Maninger.

Unabhängig von Radiostationen und Plattenfirmen die eigene Aufführungsgeschichte schreiben zu können, ist das langfristige Ziel der Medienaktivitäten. In der Tat hat sich da bereits ein beachtlicher Schatz angesammelt auf dem elektronischen Dachboden der Philharmonie. Jahres- oder auch nur Sieben-TageAbonnenten der Digital Concert Hall haben Zugriff auf hunderte Mitschnitte und können zum Beispiel sieben Interpretationen von Johannes Brahms’ 4. Sinfonie vergleichen: von Karajan, Jiri Belohlavek, Andris Nelsons sowie Rattles Deutungen aus den Jahren 2008, 2011 und 2014. Zudem gibt es Dutzende Dokumentationen, angefangen bei Wim Wenders’ Philharmonie-Film aus der „Kathedralen der Kultur“-Serie bis hin zu den Tanzprojekten und Familienkonzerten des Orchesters.

Die Musik als die flüchtigste aller Künste wird im digitalen Zeitalter verfügbar wie nie zuvor, als zuverlässig konserviertes Live-Ereignis, jederzeit und überall zugänglich gegen geringes Entgelt. Ein Phänomen mit persönlichem Nebeneffekt: Die einzelnen Philharmoniker werden überall auf der Welt erkannt. Als er jüngst auf einem Bahnhof irgendwo in der japanischen Provinz stand, berichtet Solocellist Ludwig Quandt, kamen plötzlich zwei aufgeregte Mädchen mit Instrumentenkoffern auf dem Rücken angerannt, um sich Autogramme zu erbitten.

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