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© Paul Niedermayer

Beton, Monotonie, Gewalt: „Alle Hunde sterben“ erzählt vom Alltag im türkischen Hochhaus

Neun Geschichten, neun Traumata: Autorin Cemile Sahin führt in ihrem Episodenroman ins Herz staatlicher Gewalt in der Türkei.

Wenn man Literatur mit den Mitteln der Architektur beschriebe, dann wäre diese Erzählung reiner Brutalismus – gebaut aus einer klaren, simplen Sprache, lakonischen Sätzen. Diese errichten in ihrer Abfolge eine massive Betonwand, an der sich gleißendes Licht in Schlagschatten bricht. Von diesem harten Bruch erzählt Cemile Sahin in „Alle Hunde sterben“: von der Grausamkeit und Einseitigkeit staatlicher Gewalt.

Der Ort: ein Hochhaus im Westen der Türkei, in das sich Menschen aus dem Osten des Landes geflüchtet haben, „und der Süden gehört zum Osten“. Im Süden liegt Kurdistan, doch wird das Gebiet nie benannt, der Ort bleibt im Ungefähren, könnte überall sein.

In neun Episoden berichten Menschen von traumatischen Erfahrungen, die sie und ihre Familien zerstört haben. Necla lebt nackt in einer Hundehütte. Murat trägt die Knochen seiner toten Mutter mit sich herum. Heydar wartet mit einer Pistole vor dem Fenster, um den Polizisten zu töten, der seinen Sohn erschossen hat. Nurten backt kiloweise Brot, während sie auf ihre Söhne wartet.

„In diesem Land bist du entweder Held oder Verräter“, und Verräter sind jene, die nicht zur Polizei, „den Spitzeln“, den Soldaten gehören. Sahin schildert die Maßnahmen eines Polizeistaates, der seine Apparate darauf trimmt, einen Nationalstolz mit brutalsten Mitteln der Einschüchterung und Schikane zu zementieren. Es entsteht eine Realität, in der jeder jeden verdächtigt. Zuflucht findet niemand.

Sahin, die 1990 in Wiesbaden geboren wurde, studierte Bildende Kunst in London und Berlin, schrieb eine Kolumne für die taz und gewann für ihren 2019 veröffentlichten Roman „Taxi“ die Döblin-Medaille. Schon dieser Roman glich thematisch einer Inszenierung – eine Mutter schreibt ein Drehbuch für die Wiederkehr ihres verschollenen Sohnes und bezahlt einen ehemaligen Soldaten dafür, dessen Rolle zu spielen – und das filmische, der Bühne zugewandte Erzählen findet sich auch in „Alle Hunde sterben“. Es ist, als säße man vor einen Bildschirm und würde gerne wegschauen. Doch beim Lesen geht das nicht . „Wir sehen ein Hochhaus im Westen der Türkei (…) Wir stehen im Treppenhaus. Es ist dunkel. Über den linken Bildrand betreten Uniformierte das Hochhaus.“

Anschreiben gegen den Täterfetisch

Die Opfer berichten, als würde sie eine Dokumentarfilmerin protokollieren. „Schreiben Sie das auf", sagen sie oft. „Ich möchte die Sache schnell hinter mich bringen. Ich werde nur das Nötigste berichten“. Sie erzählen nicht, sie berichten – und verheddern sich in Gedanken, in denen die einstige Persönlichkeit nur noch als ferne Erinnerung anklingt: „Ich mag Berge. Das war schon in meiner Kindheit so. In dieser Hinsicht habe ich mich nicht verändert. An manchen Tagen, da bin ich froh, wenn ich Eigenschaften an mir entdecke, die ich bereits in meiner Kindheit hatte.“

Sahin spricht sich gegen den „Täterfetisch“ in den Darstellungen von Kriegserfahrungen aus, sie will von den Opfern der Gewalt erzählen. „Wir erzählen von der Gewalt, die uns widerfahren ist. Nur so können wir uns wehren. Damit die Geschichte, die das Militär diktiert, nicht zu einer Geschichte wird, die alle in diesem Land glauben.“ Das sind bekannte, etwas abgenutzte Narrative über die Hoheit der Geschichtsschreibung.

[Cemile Sahin:  Alle Hunde sterben. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 238 Seiten, 20 €.]

Trotz individueller Geschichten ist die Erfahrung universell, die Sprache unpersönlich. Es entsteht eine Monotonie, in der Gewalt vorrangig ist, wie ein dicke Betonwand, an der alles Zwischenmenschliche abprallt. Damit läuft Sahin Gefahr, die Leser abzustumpfen.

Gewalt ist wie ein dumpfes Grollen

Aber sie ist nuancierter: „Ich fühle den Strick, den sie um Hassos Hals gelegt haben, zum Spaß, wie sie sagten, zum Spaß, als wäre Hassos Leben eine Geschichte, die erfunden ist.“ Sahins Kraft liegt in ihrer plastischen Formensprache, die Monotonie ist hier ein Stilmerkmal.

Jede Episode wird von dem Foto desselben öden amerikanischen Parkhauses gerahmt. Das Bild einer Überwachungskamera, daneben eine englische Zeitangabe, ohne Bedeutung für die Handlung. Zeit spielt keine Rolle, wenn die Angst gestern, heute und morgen bedeutet. Sprache drückt sich durch die Form aus: das Foto, die Zeitangabe, unterschiedliche Schriftbilder, Spiele mit dem Layout, Wiederholung.

Die Sprache der Gewalt türmt sich zu einem hohen Gebäude, in das die Kamera der Autorin zoomt: Die Figuren wenden sich ihr zu, dann kommt die Polizei, prügelt, schießt; ein Kameraschwenk, ein Zucken, ein Schrei, Cut, neue Figur. Die Gewalt ist wie ein dumpfes Grollen, das lauert, sich willkürlich entlädt, zurückrollt, sich donnernd neue Wege bahnt.

Lena Baumann

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