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Maren Eggert in Angela Schanelecs starkem Wettbewerbsfilm „Ich war zuhause, aber ...“.

© Nachmittagfilm

Bilanz der 69. Berlinale: Dem Berlinale-Wettbewerb fehlte eine Entdeckung

Zwischen Realismus und Arthouse-Ästhetik sucht der Berlinale-Wettbewerb nach einer Haltung. Eine Bilanz des letzten Kosslick-Jahrgangs.

Von Andreas Busche

Minutenlang rollen jüdische Namen über die Leinwand, es sind Hunderte. Die Zeit im Kino friert ein. Über den Bildern der schriftlichen Dokumente liegt noch eine zweite Schriftebene, vorgelesen vom Filmemacher Thomas Heise. Es sind Briefe der angeheirateten Familie großmütterlicherseits, in denen die Hirschhorns ihren Schwiegersohn Wilhelm Heise und Tochter Edith im fernen Berlin über die neuesten Entwicklungen in Wien informieren.

Ihre Unsicherheit kippt bald in Verzweiflung, aus der schließlich eine irrationale Hoffnung erwächst („Papa ist bestimmt im Altersheim“) – während sich die Liste der Deportierten unweigerlich den Namen mit den Anfangsbuchstaben „Hi“ nähert. Es ist eine erschütternde Dramaturgie ohne Suspense, weil die bloße Existenz der Liste das Schicksal der Menschen vorwegnimmt, das diese nicht wahrhaben wollen. Die Abstände zwischen den Briefen werden immer kürzer, bis sie nach 24 Filmminuten abrupt enden. „Ich bin Stein geworden“, ist einer der letzten Sätze der Schwägerin.

Diese Sequenz aus Thomas Heises dreieinhalbstündigem Dokumentarfilm „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ wird die 69. Berlinale überdauern, wenn die Erinnerung an das letzte Festival Dieter Kosslicks lange verblasst ist. Schon der Titel ist bären-würdig, leider vergibt die Berlinale keine Preise für den besten Filmtitel und auch nicht für den unvergesslichsten Kinomoment. Dieses Privileg ist Kritikern in ihren Bilanzen vorbehalten.

Aber auch Heises Familienchronik wird am Samstag nicht mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, der Film lief im Forum – außer Konkurrenz gewissermaßen. Wobei ein Filmemacher wie Thomas Heise ohnehin in seiner eigenen Liga spielt. In den vergangenen Tagen hörte man häufiger, dass „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ dem Wettbewerb gutgetan hätte. Dem nämlich mangelte es in diesem Jahr an großen Momenten.

Neue Ökonomie des Sehens

Etwa Bildern wie diesem: Eine Frau bewegt sich wie abwesend durch die Stadt, sie sucht nach dem Verlust ihres Mannes erneut Anschluss an die Wirklichkeit. Auch zu ihrem 13-jährigen Sohn hat sie den Kontakt verloren. Sie wandelt also, verletzt und streitlustig, umher, ihr Weg führt sie schließlich zum Friedhof, wo sie sich auf dem Grab ihres Mannes zusammenrollt. Plötzlich taucht aus dem Unterholz eine Wachtel auf und setzt sich einfach zu ihr, als wolle der Vogel der Trauernden Trost spenden. Oder sie in die Realität zurückholen.

Die Szene stammt aus Angela Schanelecs rätselhaft-anrührendem, in alle Richtungen offenem „Ich war zuhause, aber ...“. Und im Gegensatz zu Heise hat die Berliner Filmemacherin – oder ihre Hauptdarstellerin Maren Eggert – sogar eine realistische Chance auf einen Bären: Ihr Film lief im Wettbewerb. Auch Schanelecs Kino existiert seit 25 Jahren in einer Art filmischem Paralleluniversum, das aber gar nicht so hermetisch ist, wie die deutsche Kritik dem Publikum mit dem leicht anrüchigen Label „Berliner Schule“ lange weiszumachen versuchte.

In Frankreich oder der Schweiz, wo Schanelecs „Der traumhafte Weg“ auf dem Festival in Locarno 2016 begeistert aufgenommen wurde, sieht man das naturgemäß anders. Schanelec sagt im Interview, sie wollte einfach Tiere filmen. Und dass sie stets Bilder suche, die man sich in ihrer somnambulen Poetik gerne anschauen möchte. Am liebsten, ohne sofort über deren Bedeutung nachzudenken. Beide, Heise und Schanelec, erschaffen so aus der im Kino oftmals kritischen Resource Zeit eine ganz eigene Kinowirklichkeit – und eine neue Ökonomie des Sehens. Geduld erfordern beide Ansätze, so konträr sie auch sein mögen.

Nur einmal Freiheitswille im Wettbewerb

Ob „Ich war zuhause, aber ...“ die Sorte Kino ist, die eine Jury unter dem Vorsitz von Juliette Binoche für preiswürdig erachtet, bleibt Spekulation. Vorstellbar wäre es. Eine seriöse Einschätzung ist auch deshalb so schwierig, weil der Wettbewerb bis auf wenige Ausnahmen eine Idee von Kino vermissen ließ. Ansätze waren zu erkennen, etwa in Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ oder „God Exists. Her Name is Petrunya“ von der mazedonischen Regisseurin Teona Strugar Mitevska.

Dem gegenüber stehen aber Filme wie Isabel Coixets Netflix-Produktion „Elisa y Marcela“ (wenn die Antwort auf die Krise des Kinos diese geschmackvoll schwarze-weiße Arthouse-Ästhetik á la „Roma“ sein soll, dann gute Nacht), Agnieszka Hollands braves Post-Truth-Biopic „Mr. Jones“ und der fade Realismus von Claudio Giovannesis Mafia-Jugenddrama „La paranza dei bambini“.

All diese Filme werden von ihren auf Tatsachen basierenden Geschichten derart in Gewahrsam genommen, dass sie darüber das Erzählen mit Bildern vergessen. Umso verwunderter sieht man dann Adam McKays Biopic „Vice“ über den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney – die einzige Hollywood-Produktion im Wettbewerb (außer Konkurrenz) –, das mit seiner hemmungslosen Spielfreude die ganze visuelle und erzählerische Bandbreite des Kinos aufreißt.

Im Wettbewerb ist einem dieser Freiheitswille nur einmal begegnet, in Nadav Lapids französisch-israelischem Beitrag „Synonymes“, der gegen Ende des Festivals – als kaum einer noch damit rechnete – die Konventionen des Erzählkinos mit einer explosiven Körperlichkeit regelrecht sprengte. Ein junger Israeli flieht vor seiner Herkunft nach Paris, doch die Sehnsucht nach einem neuen Leben zerschellt an der Indifferenz, mit der ihm Macrons Frankreich begegnet.

Warum wurde "So Long, My Son" von der Zensur freigegeben?

In Lapids Film erfüllt sich die Forderung nach einem politischen Kino, das sowohl über Haltung als auch über eine originäre Bildsprache verfügt, die noch nicht von guten Absichten eingeebnet wurde. Das könnte Juliette Binoche ebenfalls gefallen, nicht nur weil die mitreißende Energie von „Synonymes“ an ihre entropische Paris-Hommage „Die Liebenden von Pont-Neuf“ erinnert.

Wenn das Kino heutzutage gefährlich wird, hat es selten mit der Sprengkraft der Bilder, sondern eher mit den ihnen zugrunde liegenden Ideologien zu tun. Man wird wohl nie erfahren, warum die chinesischen Behörden Zhang Yimous „One Second“ abzogen und damit einem uninspirierten Jahrgang einen traurigen Schlusspunkt (beziehungsweise eine klaffende Leerstelle) bescherten.

Viel aufschlussreicher wäre ohnehin die Frage, warum stattdessen Lou Yes Thriller „The Shadow Play“ im Panorama (über Korruption im China der Gegenwart) und Wang Xiaoshuais dreistündiges Familiendrama „So Long, My Son“ im Wettbewerb, eine hochemotionale Kritik an Chinas Ein-Kind-Politik bis 2015, von der Zensur abgesegnet wurden. Aber wahrscheinlich hat gerade diese Unberechenbarkeit totalitärer Regime  System. Niemand soll sich je sicher fühlen, nicht mal ein ehemals treuer Parteigänger wie Zhang Yimou.

Nur Lapid hatte seinen stärksten Film dabei

Mit einer solchen Vorsichtsmaßnahme lässt sich wohl auch der volkstümliche Tonfall des türkischen Beitrags „A Tale of Three Sisters“ erklären. Regisseur Emin Alper erzählt die Emanzipationsgeschichte dreier Schwestern in den Bergen Anatoliens, aber sein beißender Fatalismus wird – anders als im Vorgänger „Abluka“ – abgefedert von märchenhaften Motiven und klassizistisch ausgeleuchteten Bildern.

Dieses Problem zog sich durch die gesamte Konkurrenz: Nominell war der Wettbewerb mit Wang Quan’an, Fatih Akin, François Ozon, Angela Schanelec, Wang Xiaoshuai, Emin Alper und Nadav Lapid gar nicht mal so schlecht besetzt, leider hatte nur Lapid seinen stärksten Film dabei. Und Stammgäste wie Agnieszka Holland, Isabel Coixet oder Lone Scherfig gehören eben nicht zur Creme des europäischen Kinos. Was 2019 vor allem fehlte, war eine Entdeckung wie in den Jahren zuvor Sebastián Lelio, Laura Bispuri oder Ildikó Enyedi. Ob das ein Dieter-Kosslick-Problem ist oder das einer sich verschärfenden Krise des Weltkinos mit immer weniger A-Festival-tauglichen Produktionen, werden im kommenden Jahr Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek herausfinden. Die auf Anfang Februar vorgezogenen Oscars erleichtern diese Aufgabe sicher nicht.

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