
© Utopia
Der Umstrittene: Teodor Currentzis probt mit seinem Utopia-Projekt in Berlin
Mahler in Oberschöneweide. Der wegen seines Schweigens zum Ukraine-Krieg in die Kritik geratene Dirigent Teodor Currentzis hat mit dem Festivalorchester Utopia eine Residenz im Funkhaus gefunden.
Stand:
An diesem Sommertag haben sich früh Wolken vor die Sonne geschoben, doch an der Spree in Oberschöneweide geht ein leichter Luftzug. Ilja Chakhov sitzt auf einer Bierbank am Ufer, das Handy immer im Blick. 128 Musikerinnen und Musiker hat er aus 31 Ländern zusammengebracht, um im ehemaligen Funkhaus an der Napelastraße eines der gewaltigsten Werke der Klassik zu proben: Gustav Mahlers dritte Symphonie.
Am Pult steht Teodor Currentzis, bis vor kurzem eine Lichtgestalt des Musikgeschäfts. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine steht der gebürtige Grieche, der auch die russische Staatsbürgerschaft besitzt, in der Kritik, weil er zum Krieg schweigt.
Der Dirigent schweigt zum Krieg
Chakhov, dunkle Locken, sanfte Augen, Wohnort Paris, organisiert als Geschäftsführer die beiden Orchester von Currentzis. In St. Petersburg residiert seit 2019 Musicaeterna, ein permanentes Ensemble mit 250 Mitarbeitenden, die jeden Monat bezahlt sein wollen.
Ohne Sponsoren ist das unmöglich, daraus macht Chakhov keinen Hehl. Und da es sich um regimetragende Institutionen wie die VTB Bank und Gazprom handelt, nehmen die Engagements von Musicaeterna im Westen ab. Eines der aufregendsten Ensembles der Klassikwelt tritt quasi nur noch in Russland auf.
Diese Entwicklung hat einen lang gehegten Traum von Currentzis befeuert – ein europäisches Festivalorchester zu gründen, das zu Projekten zusammenkommt. Sein Name: Utopia. Für Currentzis ist es ein „Jugendorchester für Erwachsene“, ein großes Ensemble, das aufeinander hört und reagiert wie bei Kammermusik. Dieses Ideal hat einst auch Claudio Abbado verfolgt. Im Funkhaus findet Utopia eine Berliner Residenz, will hier proben, aufnehmen und besondere Musikformate präsentieren.
Finanziert werden die Arbeitsphasen aus der Stiftung des verstorbenen Red-Bull-Gründers Dietrich Mateschitz sowie Ticketverkäufen. Es sind Spitzenmusiker dabei, die ersten Geigen bestehen fast ausnahmslos aus Konzertmeister:innen. Und doch nennt Chakhov vor allem ein Kriterium, das Currentzis bei der Besetzung wichtig ist: „Energie, ein Brennen in den Augen“.
Im Studio A bricht sich das Scheinwerferlicht stimmungsvoll im Kunstnebel, wie Sonnenstrahlen dringt es durch das Fenster des Regieraums. Currentzis probt mit dem Damen- und dem Kinderchor, am Abend gibt es einen Durchlauf, parallel wird aufgezeichnet. Dann beginnt eine Tournee, die Utopia zuerst nach Wien führt. Currentzis ist Ehrenmitglied des Konzerthauses, Intendant Matthias Naske gilt als langjähriger Förderer.
Doch diese drei Auftritte, zwei mit Mahler, einer mit Kammermusik, werden die vorerst letzten am Wiener Konzerthaus sein. „Während der Krieg nun schon über ein Jahr lang unerträgliches Leid in die Welt bringt, hat sich Teodor Currentzis bis heute nicht öffentlich dazu geäußert“, sagt Intendant Naske. „Da er sowohl in Russland als auch in westlichen Konzertsälen dirigiert, verstärkt sein Schweigen die politische Dimension jedes öffentlichen Auftritts dieses Musikers.“
Wien setzt Zusammenarbeit aus
Die Schlussfolgerung des Intendanten: Nach Ablauf der aktuellen Spielzeit wird es vorerst keine Einladungen mehr für Currentzis geben, egal, mit welchem Orchester er sich auf den Weg nach Wien macht. Dabei war die nächste Saison längst geplant. Nun klaffen Lücken im Tourneeplan, die Geld kosten und Projekte gefährden. Rechtlich erscheint dieses Vorgehen fragwürdig: Kann man Verträge ignorieren, weil ein Künstler schweigt?
Manager Ilja Chakhov muss da einmal tief Luft holen. In Wien hatte Musicaeterna eine begeisterte Anhängerschaft, nun würden auf Mahlers Dritte „Leere und Stille“ folgen. Tatsächlich gibt es dort schon am ersten Konzertabend Standing Ovations für Currentzis und seine Utopia-Musiker:innen nach dem bewegenden Schlusssatz, den Mahler der göttlichen Liebe gewidmet hat.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: